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Wald – Erleben



 

Seit geraumer Zeit suche ich fast täglich den Wald auf.
Mit dem Auto fahre ich an den Waldesrand, wo ein Waldweg beginnt. Ich packe die Stöcke vom Rücksitz und das Handy für Fotos.
Ich tauche ein. „Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile.“ Das erleben wir auch im Wald: Der Wald ist ja nicht die Summe aller Bäume, sondern etwas ganz Neues, nämlich Leben und Heimat, Vielfalt und Dazugehören, Düfte, Knacken der Äste, Beeren, die kleinsten Tiere. Alles ist miteinander verwoben und ich bin mittendrin.

Ein Ameisenhaufen links, hohe Kiefern, deren Wipfeln im Wind rauschen, rechts kurios gewachsene Baumstämme, Totholz und Unterholz. An manchen Stellen feiner Sand. Das ist der Sander, der von Gletschern zurückgelassen wurde vor 20 000 bis 30 000 Jahren. Ich bin so erstaunt, dass hier ein feiner Sand liegt!

Plötzlich stehe ich still, atme tief durch, lausche der Stille, ich tauche ein im Lebendigen, bin geborgen im Ungeborgenen.

Der Wald ist für mich eine Transzendenzerfahrung, etwas, das mich selbst und die Tatsachen des Lebens übersteigt. Traditionell sagt man dazu: im Wald begegnet mir Gott.


Ich singe:

O Täler weit o Höhen,

o schöner grüner Wald,

du meiner Lust und Wehen andächtger Aufenthalt.

Da draußen stehts betrogen,

seufzt die geschäftge Welt.

Schlag noch einmal den Bogen

Um mich, du grünes Zelt!

 

 

Ein Gedicht von Josef von Eichendorff 1810, als er von seinem Landgut in Lubowitz nach Wien zog. Ich singe nach der Melodie von Felix Mendelssohn-Bartholdy 1843, die ich so sehr liebe mit ihren weiten Intervallen.

Das grüne Zelt wird für mich immer mehr mein Bild für Gott. In einem anderen Gedicht heißt es: Du grüner Raum!

Manchmal genügt es mir schon, an den Wald und meine Waldesruhe zu denken, um mich umhüllt und geborgen zu fühlen vom grünen Zelt.

Doch heute war ich wieder im Wald, ich ging den Weg entlang des Schweriner Sees. Ich war trüber Stimmung, ich fühlte mich nicht gut. Es war wieder die alte Frage: Wer bin ich? Wer bin ich nicht?

Dort sehe ich das bizarre Wurzelwerk umgefallener Bäume und die krassen Baumreste, die in den See ragen. Man muss wissen, dass hier das Totholz liegen bleibt zur Heimat und zur Nahrung der Insekten. Ich höre dieses Totholz zu mir sprechen: „Du bist wie wir. Auch du bist ein Teil von uns, ein kleiner Teil der großen Natur.“

Ich setze mich auf eine Bank, von der aus ich bis zu dem dunstigen Schweriner Dom schauen kann. Ein Taucherle schwimmt im kalten Wasser, ein anderes fliegt rasch quer über das Wasser. Weiß es wo es hin will?

Ich beobachte eine Ameise. Sie schleppt einen großen weißen Ball, fast so groß wie ihr Körper. Sie rennt ohne sich umzuschauen, ohne sich auszuruhen. Ich begleite sie, solange meine Rückenschmerzen es erlauben. Dann lausche ich wieder der Stille und dem sanften Rauschen des Wassers.

Als ich wieder zum Auto zurückgehe, höre ich ein neues Wort, das ich noch gar nicht kannte: Seinsfroh. Ja, der Wald hat mich seinsfroh werden lassen.

Hat diese Heilkraft des Waldes etwas damit zu tun, dass in meiner Kindheit und Jugend der Wald für mich existentiell war: Pilze sammeln, Waldhimbeeren und vor allem Heidelbeeren! In einer Waldlichtung Kühe hüten, durch den Wald 2 Stunden zum Bahnhof laufen (wenn wir Angst hatten, haben wir gesungen).

Unsere Mutter picknickte mit uns an der „Großen Tanne“, wo sollte sie auch anders hin?

Später lief ich mit meinem Seelenschmerz in den Wald, meinem Ärger über meine Mutter, über die Bevorzugung meiner drei Brüder, und dann der Liebeskummer! Ach!

 

Ich bin immer in den Wald gerannt, ja geflohen.

 

Im Wald kann Heilung geschehen.

 

Der Vorstandschef der Natur-Kosmetik-Gruppe Yves Rocher berichtet von seinem Großvater:

Er hatte oft aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Schule gehen können, war also sehr an seinen Vater gebunden, der jedoch starb, als dieser 14 Jahre alt war. Der Junge ist in den Wald geflüchtet, wo er zwei Jahre lang sehr intensive Erfahrungen machte. Er schlief zwar nicht im Wald, verbrachte aber all seine Zeit dort. Da fand er alles, was er suchte.

So kam er darauf, Kosmetik und Natur zu verbinden.

(aus: Süddeutsche Zeitung vom 13.7.20)

 

Eine Freundin schreibt mir: Ich war wieder im Wald, den ich inzwischen liebe und sehr vermissen werde. Mein Körper ist schon ein anderer. Ich laufe besser. 

 

In letzter Zeit ist ja das Wald-Baden ein neues Angebot nicht nur der Wellness-Branche sondern auch der Gesundung wegen. Durch das Atmen gewinnen wir Anteil an den Terpenen, die die Bäume freisetzen und mit denen sie sich auch unterhalten. Der Baum ist die direkte Verbindung von Himmel und Erde, wir können uns dazwischen eingebunden fühlen. Wir finden Ruhe, die uns aus dem Alltag herausführt. Der Förster Peter Wohlleben spricht sogar vom Charakter der Bäume, denn sie haben ein geheimes Leben.

 

Weil der Wald diese große Bedeutung hat, nicht nur für mich, deshalb schreibe ich dieses Gebet.

Gott ist nicht mein Vater oder mein Hirte, sondern hier mein grünes Zelt und natürlich vieles mehr.

 

Du grünes Zelt, du meine Gottfrau!

In dir finde ich Heimat und Geborgenheit.

In dir gewinne ich Klarheit über mich.

Du bist die Wahrheit, du bist der Raum meiner Freiheit.

Dafür danke ich Dir!

Bleib bestehen für uns alle,

die wir unseren Weg suchen und in Dir finden wollen!

Wir wollen auch in Dir bleiben, in allem, was in Dir webt und lebt!

Amen

Der Wald im Märchen

Märchen haben eine lange Tradition, ja auch schon mündlich, wie wir von der Grimmschen Sammlung wissen.

Das Beispiel von Rotkäppchen hat mir wieder einen heiligen Zorn spüren lassen: Rotkäppchen ist bei den Brüdern Grimm brav und lieb. Sie ist gehorsam und angepasst, sie ist passiv und tut, was die Mutter ihr sagt. Hinter dem braven Mädchen steht das Frauenbild der Biedermeier-Zeit. Und Heldinnen in den Märchen sind meistens Mädchen in der Pubertät. Sie sollen zu einer züchtigen Frau heranwachsen. Forscht man jedoch lange, so kommt man auf eine matriarchale Tradition.

So versucht Paul Delarues eine ursprüngliche Fassung zu rekonstruieren. Hier ist Rotkäppchen eine freche Göre:

Ein Mädchen bekommt von ihrer Mutter Brot und Milch. Diese Sachen soll sie zu ihrer Großmutter bringen. An einer Wegkreuzung im Wald begegnet sie einem Werwolf, der sie nach ihrem Ziel fragt. Das Mädchen erzählt dem Werwolf, wohin sie gehen will. Dieser fragt sie daraufhin, welchen von zwei möglichen Wegen, Stecknadelweg oder Nähnadelweg, sie gehen wird und nimmt selbst den anderen. Der Werwolf kommt vor dem Mädchen bei der Großmutter an, tötet diese und stellt Fleisch und Blut dieser in den Schrank. Das Mädchen, welches kurz darauf ankommt, wird von dem Werwolf aufgefordert etwas von dem Fleisch zu essen und von dem Blut zu trinken, bevor sie sich nackt zu ihm ins Bett legen soll. Bei jedem Kleidungsstück, welches das Mädchen ablegt, fordert der Wolf, dass sie jenes ins Feuer wirft. Sobald das Kind bei dem Wolf im Bett liegt, folgt das klassische Frage-Antwort-Spiel nach dem plötzlich merkwürdigen Erscheinungsbild der Großmutter. Bevor der Werwolf sich auf das Mädchen stürzen kann, behauptet das Kind es müsse dringend. Der Werwolf bindet eine Schnur an das Kind und lässt es in den Garten, wo dieses ihm entwischt.

 

 

 

Der Wald ist der Ort der Ich-Findung. So kann auch ich es selbst erleben. Denn dieses Thema kann eine Frau länger beschäftigen als nur in der Pubertätszeit.

 

Wenn ich an das Märchen vom Mädchen ohne Hände denke, dann spüre ich, wie das Mädchen in dem Wald eine Wandlung durchmacht bis hin zu dem Haus im Wald, über dem der Satz steht: „Hier wohnt jede frei“.

Das Mädchen hatte dem Vater erlaubt, seine Hände abzuhacken, wie er es dem Teufel versprochen hatte. Sie wanderte durch den Wald, begegnete einem Adligen, sie heiratet ich, silberne Hände wachsen nach. Durch eine Intrige wird sie fortgejagt und nimmt weinend ihr Kind mit wieder in den Wald. Und dort findet sie in dem genannten Haus ihre Heimat!

 

Ich stelle mir vor: Jesus wäre nicht in die Wüste gegangen, wo er 40 Tage lang vom Satan geprüft wurde. Er lehnte Reichtum und Macht ab. Jesus verkündete die Liebe als größte Kraft. Hier in Europa wäre er in den Wald gegangen. Auch dort hätte er zu seinem wahren Auftrag gefunden. Vielleicht hätte es andere Prüfungen gegeben.

Sofort trieb die Geistkraft ihn in die Wüste hinaus. In der Wüste blieb er 40 Tage lang. In dieser Zeit wurde er vom Satan auf die Probe gestellt. Er lebte mit den wilden Tieren, und die Engel sorgten umfassend für ihn.

Markus 1,12+13:

 

Wir haben hier in Europa keine Erfahrung der Wüste und dennoch spricht uns das Bild der Wüste an – warum?

Ich weiß es nicht.

 

 

Arbeitsplatz Wald

 

Dieser Beitrag vom Wald wäre unvollständig ohne die Berufe zu nennen, mit denen im Wald Geld zu verdienen ist:

Im Wald verdienen sich viele Menschen ihr Geld: die Holzfäller – ein gefährlicher Arbeitsplatz, die Pilzsammlerinnen in Polen, die sie zum Verkauf in deutschen Supermärkten anbieten.

Förster und Försterinnen. Sie haben eine vielfältige Aufgabe, sie schützen den Wald und beobachten ihn, erkennen Wildschäden und Baumbefall.

 

Ich zitiere das Internet, da ich über den Beruf des Jägers selbst nichts Konkretes weiß:

Jäger können ehrenamtlich oder hauptberuflich arbeiten. Schon die ehrenamtliche Jägerprüfung hat es in sich. Sie wird auch als „Grünes Abitur“ bezeichnet. Auf angehende Jäger kommen umfangreiche schriftliche und mündliche Prüfungen zu. In der dreijährigen dualen Ausbildung zum Berufsjäger ist's natürlich nicht anders. Zum Job gehört, mit der Flinte umgehen zu können. Auch das müssen Jobanwärter in der Prüfung unter Beweis stellen.

Berufsjäger müssen in ihrem Alltag viele umfangreiche Aufgaben erledigen, für die sie das erworbene Fachwissen dringend brauchen. Im Fokus ihrer Arbeit stehen vor allem die Themen Naturschutz und die Pflege des Wildtierbestands. Entsprechend breit gefächert sind die täglichen To Do’s. Sie reichen von der Fütterung von Jungtieren über die Gestaltung ihrer Lebensräume bis hin zum Pflanzen von Hecken und dem Anlegen von Biotopen. Jäger bestellen und bewässern auch Wildäcker. Denn diese sind für Tiere ein wichtiger Lieferant für Nahrung und bieten ihnen Schutz.

Eine große Rolle in dem Beruf spielt auch der Tierschutz. Zwischen März und August suchen Jäger auf Wiesen, Feldern und Äckern zum Beispiel nach zurückgelassenen Jungtieren. Diese könnten ansonsten durch Mähdrescher oder anderes schweres Gerät getötet werden.

Auch das Schießen von Tieren kommt vor, aber eher selten. Hier sind die Vorschriften sehr streng. Nur bei Überpopulation oder Krankheiten dürfen die Revierjäger töten. Die Work Life Balance ist meist ausgewogen, allerdings ist der Job bisweilen körperlich anstrengend und umfasst auch Arbeit an Wochenenden oder zu später Stunde.

 

Ich lernte eine Jägerin kennen. Sie schrieb mir diese herrliche Erzählung, wie sie die Natur beobachtet und achtet:

 

ich bin jägerin und wir haben eine kleine landwirtschaft zu hause, da bin ich immer wieder erstaunt über das leben, seine ordnung, seine  schönheit, seine grausamkeit, seine wahrheit, es kann sein, dass ich einen  fuchs beobachte, wie er eine maus frisst und mich freue, wie es ihm schmeckt  und gleichzeitig traurig bin, dass dieses mäuslein nun sterben musste. aber gleichzeitig zu fühlen, das ist richtig so! bevor ich ein tier erlege, spüre ich ganz tief in mich hinein, ob das nun so in ordnung ist, und lasse auch viele tiere einfach laufen... ich genieße diese lebendige weltliche und göttliche wahrheit, die wunder der natur, ich erlebe sie stets als eine offenbarung gottes. hatte aber derweil nie wirklich  etwas mit gott zu besprechen, weil ich ihn ja immer spüren konnte, in der  natur und im leben. das leben ist so wie es ist, war und ist meine grundhaltung. der tod gehört genauso dazu wie das leben, das weiß ich.
Und weiter:

Manchmal kann man an Sommerabenden beobachten, wie ein Hase auf der Wiese sitzt und Löwenzahnblüten oder -blätter frisst. Sie beißen es meist ganz unten ab und ziehen es dann schmatz für schmatz weiter in den Mund hinein, bis nur noch die Blüte rausguckt und die dann schwupps auf einmal auch weggefressen ist. Man bekommt da wirklich selbst Hunger, ein Grund, warum ich mir auch oft ein Vesper mitnehme. Alte Jäger sagen, das würden die Tiere riechen, aber ich hab meist die Erfahrung gemacht, dass es sie nicht stört. Wir lassen es uns sozusagen gemeinsam schmecken! Es ist wirklich auch eine große Freude, wie sich unsere Kühe und Pferde das frische Gras schmecken lassen. Manchmal höre ich noch eine weile, bevor ich den stall zu mache, dem Schmatzen zu und freu mich richtig. Die Art, wie der Hase auf der Wiese sitzt und in die Welt guckt, ist einfach nur zum Lachen. Nun aber kommt ein Fuchs aus der Ecke angeschlichen, er ist selbst mit seiner Nahrungssuche beschäftigt und lauert vor den Mauselöchern, es kommt nichts und er hat dann keine Lust mehr zu warten, geht ein Stück weiter, und plötzlich hat man Angst um den Hasen, oh nein, der Fuchs frisst jetzt den Hasen. Falsch gedacht. Zumindest im Sommer. Es gab wirklich schon Abende, da saß der Fuchs dann ganz gemütlich da, und hat dem Hasen zugeschaut, wie der über die Felder hoppelt, er hoppelt sogar manchmal ganz knapp am Fuchs vorbei, bleibt auch mal sitzen und guckt, so als wollte er sagen, ich weiß, dass du mich heute nicht fressen willst, außerdem hättest du heute eh keine Chance, weil ich so gut gegessen hab...hoppeldipoppeldipoppel ... der Fuchs schaut, und es sieht aus als würde er sich über dieses Wesen wundern: „Sachen gibts!"

 

Ich schmunzele immer wieder, wenn ich dies lese!

Lassen Sie mich schließen mit den letzten Strophen des Gedichtes „Lebt wohl“ von

 

Annette von Droste-Hülshoff

 

Solange mir der frische Wald

Aus jedem Blatt Gesänge rauscht,

Aus jeder Klippe, jedem Spalt

Befreundet mir der Elfe lauscht.

 

Solange noch der Arm sich frei 

Und waltend sich zum Äther streckt

Und jedes wilden Geiers Schrei

In mir die wilde Muse weckt.

H.-W.Mader

Auch mich hat Hanna Strack inspiriert, wieder in den Wald zu gehen. Den Ort, der auch Kirche und Arzt sein kann. Wo unsere aufgescheuchten Seelen Heilung erlangen können. Ich freue mich auf die nächsten Zeilen.

Johanna Pohlmann

Liebe Hanna! So herzerfrischend ist dein Text. Danke! Ich bin gerade im Begriff mich anzuziehen und in den Wald zu gehen, diesen lebendigen Ort der Geborgenheit und Verbindung. Jetzt fühle ich mich auch dir noch näher verbunden. Eine tolle Idee von dir, diesen Blog zu schreiben. Ich freue mich schon auf weitere Texte von dir! Herzliche Grüße von Johanna

Malika

Sehr berührend und so wahr, da kann ich mitgehen, verbringe auch viel heilsame Zeit im Wald

Christian

Wunderschön geschrieben, liebe Hanna! Der Wald dient auch mir als Quelle, zu mir zu kommen, in Verbindung zu gehen und Eins zu sein mit dem Göttlichen, den Naturwesen und der Quelle aus der wir alle entspringen. Auftanken und Sein!

Philipp Hietel

Ein sehr schöner Text!

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