Bernd Schmid/Andrea Günter: Systemische Traumarbeit. Der schöpferische Dialog anhand von Träumen,
Vandenhoek & Ruprecht Göttingen 2012
www.andreaguenter.de www.systemische-professionalitaet.de
Seit fünfzig Jahren sammle ich auffallende Träume von mir. Wie kann ich sie verstehen? Sind sie ein Teil meiner Persönlichkeit? Die Philosophin und Theologin Andrea Günter und der Psychologe Bernd Schmid, der Leiter des Instituts für Systemische Beratung, Wiesloch, gaben mir mit ihrem kleinen, aber sehr dichten Buch einen Leitfaden an die Hand, mit dem ich in einen Traum einsteige und mit ihm kreativ weiterspiele. Träume müssen nicht nach einer bestimmten Botschaft befragt werden, sie sind lebendige Bausteine der Persönlichkeit. „Die Haltung, die durch einen recht verstandenen Umgang mit Träumen gefördert wird, ergänzt (…) um Aspekte einer Verstehens- und Sinnschöpfungskultur.“ (135)
Das Buch basiert auf Erfahrungen mit Traumdialogen anlässlich von Seminaren und Coachinggesprächen. Aber was heißt „Systemische Traumarbeit“? Der Traum ist eingebettet in vielfältige Lebenszusammenhänge des Träumenden und in Wirklichkeiten der Dialogpartner: Das Leben des Träumenden, das Erlebte am Tag zuvor, die Fragen nach sich selbst, der Blick der Gesprächspartner auf den Traum, die Sprache der Symbole und der Mythen. „Das Traumerleben kann Kräfte freisetzen, den Träumer bewegen, den Dialog mit sich und anderen zu suchen.“ (12)
Nach dem einleitenden Kapitel werden die Autoren konkret: Sie geben thesenartig Hinweise. An Beispielen wird das Traumerleben schöpferisch entfaltet. Dem liegt das Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun zu Grunde. Ist der Dialog zu Träumen nun Arbeit oder Kreativität? Offensichtlich beides. Diese Traumdeutung ist sinnorientiert im Sinne einer Autopoesis: im Dialog wird erkannt, was für den Träumenden und die Dialogpartner einen Sinn ergibt (47f). Traumdialoge wachsen zu einer gemeinsamen Erzählung heran. Systemische Sichtweisen auf Freud, Adler, Jung werden je mit einem Beispiel vorgestellt.
Das dritte Kapitel entfaltet Traumdialoge und überrascht mit der Vielfalt an Reaktionen. Dazu eine 90minütige Übung des kollegialen Dialogs mit einem Traum in fünf Schritten und ein Beratungsangebot, das in einer Vierergruppe entwickelt wird. Hier habe ich mir die Anregung geholt, in meine Träume hineinzugehen und mit ihnen wie auf einer Theaterbühne zu spielen: Ich öffne die Tür des Schrankes in meinem Jugendzimmer und bin erstaunt über den Inhalt, ich setze mich an den Schreibtisch in einer Gefängniszelle, merke dass ich so nicht genügend Weitsicht habe.
Im 4. Kapitel „Systemische Arbeitsfiguren“ erfahren wir die Aufgaben einzelner Dialogpartner: sie werden zu Assoziationen eingeladen, sprechen Erzählgewohnheiten an, nutzen die kulturelle Bedeutung zur Anreicherung, lösen Suchprozesse aus. Die Differenzen zwischen dem Traum selbst und der Erzählung durch den Träumenden und auch dessen Deutungsgewohnheiten müssen angesprochen werden.
Vielfältig ist auch das 5. Kapitel: Vertiefende Arbeitsfiguren, Beispiele und Erläuterungen für die Beobachterperspektive. Hier geht es u. a. um die Spiegelung des Traumgeschehens mit aktuellen Erfahrungen, um seelische Hintergrundbilder, Archetypen und Symbolwissen.
Das 6. Kapitel zeigt an dem Beispiel des Herrn MIDLIFE in der Krise, wie Träume in acht Sitzungen das Coaching bereichern und kleine Murmelgruppen zur Vertiefung beitragen. Das Format für ein Persönlichkeits-Coaching wird in drei Teilen vorgestellt: 1. Klärung von Anlass und Bedarf, 2. ‚Ortsbegehung’ des beruflichen Umfeldes, 3. ‚Ortsbegehung’ der seelischen Leitbilder und persönlichen Eigenarten.
Im 7. Kapitel, dem Schluss, fragen die Autoren: „Eignen sich Träume bzw. die hier geschilderten Dialoge anhand von Träumen für Coaching? Für die Ausbildung von Beratern? Für professionelle Kommunikation? Oder gar als Gesprächsebene in Organisationen?“ Und sie antworten selbst: „Wir meinen: Ja!“ (135) Wichtiger als inhaltliche Ausdeutungen ist ihnen „eine Gesprächskultur, die Neugier und Verstehen, offene Fragen und Formen der Plausibilitätsprüfung ins Zentrum stellt.“ (136)
Den Abschluss bildet ein Leitfaden für diesen schöpferischen Umgang mit einem Traum, es sind Leitlinien, Fragestellungen, grundsätzliche Vorgehensweisen und Perspektiven, Inhalte und Anleitungen, sich mit den unterschiedlichen menschlichen Wirklichkeitsbezügen auseinanderzusetzen.
Aus meiner autobiographischen Neugier griff ich nach dem Buch und fand das, was mir entspricht: Die Lebendigkeit hinter dem reinen Denken, auch dem reinen Traumgedanken.
Hanna Strack, Pastorin i. R., veröffentlichte: „Die Frau ist Mit-Schöpferin. Eine Theologie der Geburt“, Rüsselheim 2006 und mit Gunhild Nienkerk: „Guter Hoffnung sein. Ein spiritueller Begleiter für Schwangerschaft und Geburt“, Innsbruck 2013