Was ist Segen?
Die Nachfrage nach Segen ist sehr groß. Groß ist das Bedürfnis nach einer Zuwendung, die nicht mehr hinterfragt werden kann, nach einem unbedingten Ja, auch zu Wut, Verzweiflung und Ungewißheit.
Wir leben in einer brüchigen Zeit. Deshalb bedürfen wir der heilenden Erfahrungen, sei es durch Texte, die wir lesen, Worte, die uns gesagt werden, Berührungen unsere Haut, Gebärden allein oder zu mehreren.
Es fehlt uns in dieser Zeit ein geschlossenes Weltbild, aus dem heraus wir unser eigenes kleines Leben verstehen können. Es fehlt uns der große Zusammenhang, der unserem Leben in unserem Land und unseren sozialen Strukturen eine klare Aufgabe und eine wärmende Heimat gibt.
Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen können wir heute nicht aus dem Vertrauen in ein Sinngefüge hinnehmen. Alles ist unklar, offen, unsicher. Wir fühlen uns den großen multinationalen Konzernen ausgeliefert. Wir spüren ihre Macht, die bis in unseren Alltag reicht. Aber auch keinem Herrscherhaus, keiner Partei können wir uneingeschränkt vertrauen.
Auf diesem Hintergrund ist der persönliche Lebensplan nicht voraussehbar, er ist nicht geradlinig, nicht zuverlässig. Junge und alte Menschen wissen nur eins: daß sie nicht wissen, wie ihr Lebensweg verlaufen wird.
Wie bekomme ich in dieser Zeit Zugang zu den tragenden Kräften des Lebens?
Das ist die Frage, auf die die Segenstexte eine klare Antwort geben. Sie sprechen uns die Geborgenheit und die wohltuende Ordnung zu, die aus der umfassenden Kraft der Gottheit kommt.
Gleichzeitig öffnen sie in uns eine Quelle der Kraft. Beide Kräfte müssen zusammenkommen, denn wir wollen nicht „abgesegnet werden“. Wir wollen selbständig leben und demokratisch auch für unsere eigene Spiritualität verantwortlich sein. Wir wollen nicht eine neue Macht-über-uns.
Die Segenstexte verwenden deshalb viele Bildworte oder Metaphern, wie z.B. das Wasser für das, was unsere Energien zum Fließen bringt oder der Baum, mit dem der Mensch verglichen werden kann. Die inneren Bilder werden aktiviert und stärken uns dadurch.
Segen soll nicht mehr ausschließlich von einer ordinierten oder geweihten Person gespendet werden können.
Segen öffnet in jedem Menschen die Tore der Kraft, die in ihm selbst liegt. Denn, so schreibt Paulus: „Wißt ihr nicht, daß euer Körper der Tempel des Heiligen Geistes ist?“ Und im Johannesevangelium sagt Jesus: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“
So hat nun der Segen wieder den gottesdienstlichen Raum verlassen und sich in den Alltag begeben.
Dabei geben wir auch die Verengung auf, die besonders im Luthertum eine Beschränkung auf den aaronitischen Segen bedeutet.“Der Herr segne und behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch Frieden.“ Das Alte Testament, die Hebräische Bibel, birgt in sich eine Fülle anderer Segenstexte, unabhängig vom Gottesdienst. So z.B. Segen, der das Erbe weitergibt, Segen, der eine große Nachkommenschaft verheißt, Segen, der Glück wünscht. Diese Segenswrote der Bibel sprechen von existiellen Bedürfnissen und sprechen ihnen Gottes Ja zu.
Das große Verlangen nach Segen ist besonders in der kirchlichen und außerkirchlichen Frauenbewegung zu spüren. Tagungen zum Thema Segen, Arbeitsmappen, Gottesdienste, Segensfeiern zu Anlässen wie die Wechseljahre, Reise, neue Wohnung, werden mit dem Segen begleitet. Segnung lesbischer Paare gehört dazu. Frauen und Männer wollen Lebenserfahrungen vor Gott stellen, damit er sie annimmt. Hatte nicht Hagar, als sie in der Wüste umherirrte und ein Engel ihr den Brunnen zeigte, aufgrund ihrer eigenen Erfahrung Gott einen Namen gegeben: „Gott, du der du mich siehst“ oder „die sehende Gottheit“?
Verbunden mit den Texten ist die körperlich-sinnliche Erfahrung: Wohlriechendes Öl, Berührung von Hand und Haut, Tanzen im Kreis um die Mitte ( Beispiele in: Segen ist nicht nur ein Wort). Viele Tanzanleiterinnen verwenden die Segenstexte, wie diejenigen aus meinem ersten Buch (Segen – Herberge in unwirtlicher Zeit) im Zusammenhang mit meditativen Tänzen, so z.B. der Segen der vier Himmelsrichtungen. Segenstänze öffnen alle Sinne und lassen den Segen fließen.
Segen ist ein Grundbedürfnis aller Menschen.
So finden wir Segen im Hinduismus – die rote Farbe auf der Türschwelle und die Harfe als Musikinstrument des Segens -, im Islam und natürlich besonders viele Texte und Segensgebete im Judentum. Indianer singen das Segenslied.
In der Jüdischen Tradition und auch in der katholischen Kirche finden wir den Ausdruck: Gesegnet bist du Gott! Damit danken die Gläubigen für Gottes Zuwendung und sie wünschen, daß Gottes Segenskraft noch stärker werde.
Allgemein verstehen wir den Segen als eine Macht, die von Gott durch die segnende Person hindurch wirkt. Deshalb können wir auch sagen: Ich segne dich, wir segnen einander. Schließlich wird oft auch das Passiv verwendet: Gesegnet bist du! Damit wird der Name Gottes geschützt vor Inflation. Die Passivform kann auch Personen, die nicht an Gott glauben, in das Segnen miteinbeziehen.
Was kann Segen in dieser brüchigen Zeit tun?
Der Segen sagt:
Ja, auch in der Unsicherheit bist du gehalten.
Ja, auch das Unvollkommene ist in Ordnung.
Ja, auch das Scheitern ist ein Teil des Ganzen.
Ja, auch die sprühende Lebensfreude ist gewollt.
Ja, auch die Kraft des Kreativen ist eine ordnende Kraft.
Ja, auch das Sterben gehört zum Leben.
So gehört der Segen in den Bereich dessen, was das Leben gründet, ihm Sinn und Tragfähigkeit verleiht. Segen gibt uns Zugang zum Grund unseres Seins. Oder wie das Volkslied singt: „In einem kühlen Grunde steht meiner Heimat Haus, da zog ich manche Stunde zum Tal hinaus“. In diesem Landschaftsbild erfahren wir, was „Grund des Seins“ meint: Heimat, Quelle und Rückzugsmöglichkeit zugleich.
Der Segen kommt zu uns als Wort, das wir hören, dessen Klänge uns vertraut sind.
Segen kommt räumlich zu uns, wenn die Pastorin oder der Pastor die Hände erheben und eine Verbindung im Raum entsteht. Segen schwingt dann wie eine Saite der Geige im Resonanzboden.
Und Segen spüren wir auf unserem Leib. Handauflegen bei der Konfirmation, bei der Trauung oder wenn eine Freundin uns ein Zeichen auf Stirn oder Hände gibt, dann geht Segen unter die Haut.
Segen bekräftigt uns an unserem Ort, gibt uns Würde und läßt uns die Gegenwart der guten Mächte erfahren. So kann eine Situation zur Begegnung mit dem Heiligen werden.