Hanna Strack » SEGEN strömt aus der Mitte

Hinführung

 

Die Nachfrage nach Segen ist sehr groß. Groß ist das Bedürfnis nach einer Zuwen­dung, die nicht mehr hinterfragt werden kann, nach einem unbedingten Ja, auch zu Wut, Verzweiflung und Ungewißheit.

 

Wir leben in einer brüchigen Zeit. Deshalb bedürfen wir der heilenden Erfahrungen, sei es durch Texte, die wir lesen, Worte, die uns gesagt werden, Berührungen unsere Haut, Gebärden allein oder zu mehreren.

 

Es fehlt uns in dieser Zeit ein geschlossenes Weltbild, aus dem heraus wir unser eige­nes kleines Leben verstehen können. Es fehlt uns der große Zusammenhang, der unse­rem Le­ben in unserem Land und unseren so­zialen Strukturen eine klare Aufgabe und eine wärmende Heimat gibt.

Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen können wir heute nicht aus dem Vertrauen in ein Sinngefüge hinnehmen. Alles ist unklar, offen, unsicher. Wir fühlen uns den großen multinationalen Kon­zernen ausgeliefert. Wir spüren ihre Macht, die bis in unseren Alltag reicht. Aber auch keinem Herrscherhaus, keiner Partei können wir uneingeschränkt vertrauen.

 

Auf diesem Hintergrund ist der persön­liche Lebensplan nicht voraussehbar, er ist nicht geradli­nig, nicht zuverläs­sig. Junge und alte Men­schen wissen nur eins: daß sie nicht wis­sen, wie ihr Lebensweg verlaufen wird.

 

Wie bekomme ich in dieser Zeit Zugang zu den tragenden Kräften des Lebens? Das ist die Frage, auf die die Segenstexte eine klare Antwort geben. Sie sprechen uns die Geborgenheit und die wohltuende Ordnung zu, die aus der umfassenden Kraft der Gottheit ko­mmt.

 

Gleichzeitig öffnen sie in uns eine Quelle der Kraft. Beide Kräfte müssen zusammenkommen, denn wir wollen nicht „abgesegnet wer­den“. Wir wollen selbstän­dig leben und demo­kra­tisch auch für unsere eigene Spiri­tuali­tät verantwort­lich sein.  Wir wollen nicht eine neue Macht-über-uns.

Die Segenstexte verwenden des­halb viele Bildworte oder Metaphern, wie z.B. das Wasser für das, was unsere Ener­gien zum Fließen bringt oder der Baum, mit dem der Mensch verglichen werden kann. Die inneren Bilder werden aktiviert und stärken uns dadurch.

Segen soll nicht mehr ausschließlich von einer ordinierten oder geweihten Person gespendet werden können.


Segen öffnet in jedem Menschen die Tore der Kraft, die in ihm sel­bst liegt. Denn, so schreibt Paulus: „Wißt ihr nicht, daß euer Körper der Tempel des Heiligen Geistes ist?“ Und im Johannesevangelium sagt Jesus: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“

 

So hat nun der Segen wieder den gottesdienstlichen Raum ver­lassen und sich in den Alltag bege­ben. Dabei geben wir auch die Verengung auf, die be­sonders im Luthertum eine Be­schränkung auf den aaroni­tischen Segen bedeutet.“Der Herr segne und behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuch­ten über euch und sei euch gnädig. Er erhe­be sein Ange­sicht auf euch und gebe euch Frieden.“ Das Alte Testament, die Hebräi­sche Bibel, birgt in sich eine Fülle ande­rer Segens­texte, unabhängig vom Gottes­dienst. So z.B. Segen, der das Erbe weiter­gibt, Segen, der eine große Nachkom­men­schaft verheißt, Se­gen, der Glück wünscht. Diese Segenswrote der Bibel sprechen von existiellen Bedürfnissen und sprechen ihnen Gottes Ja zu.

 

Das große Verlangen nach Segen ist beson­ders in der kirchlichen und außerkirchli­chen Frauenbewegung zu spüren. Tagungen zum Thema Segen, Arbeitsmappen, Gottesdienste, Segensfeiern zu Anlässen wie die Wechsel­jahre, Reise, neue Wohnung, werden mit dem Segen begleitet. Segnung lesbischer Paare gehört dazu. Frauen und Männer wollen Lebenserfahrungen vor Gott stellen, damit er sie annimmt. Hatte nicht Hagar, als sie in der Wüste umherirrte und ein Engel ihr den Brunnen zeigte, aufgrund ihrer eigenen Erfahrung Gott einen Namen gegeben: „Gott, du der du mich siehst“ oder „die sehende Gottheit“?

Verbunden mit den Texten ist die körperlich-sinnliche Erfahrung: Wohlriechendes Öl, Berührung von Hand und Haut, Tanzen im Kreis um die Mitte. Viele Tanzanleiterinnen verwenden die Se­genstexte, wie diejenigen aus meinem ersten Buch (Segen – Herberge in unwirtlicher Zeit) im Zusammenhang mit meditativen Tän­zen, so z.B. der Segen der vier Himmels­richtungen. Segenstänze öffnen alle Sinne und lassen den Segen fließen.

 

Segen ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. So finden wir Segen im Hinduismus – die rote Farbe auf der Türschwelle und die Harfe als Musikinstrument des Segens -, im Islam und natürlich besonders viele Texte und Segensgebete im Judentum. Indianer singen das Segenslied.

 

In der Jüdischen Tradition und auch in der katholischen Kirche finden wir den Aus­druck: Gesegnet bist du Gott! Damit danken die Gläubigen für Gottes Zuwendung und sie wünschen, daß Gottes Segenskraft noch stärker werde. Allgemein ver­stehen wir den Segen als eine Macht, die von Gott durch die segnende Person hindurch wirkt. Deshalb können wir auch sagen: Ich segne dich, wir seg­nen einander. Schließ­lich wird oft auch das Passiv verwendet: Gesegnet bist du! Damit wird der Name Got­tes ge­schützt vor Infla­tion. Die Passivform kann auch Personen, die nicht an Gott glau­ben, in das Segnen miteinbeziehen.

 

Was kann Segen in dieser brüchigen Zeit tun?

Der Segen sagt:

Ja, auch in der Unsicherheit bist du gehal­ten.

Ja, auch das Unvollkommene ist in Ordnung.

Ja, auch das Scheitern ist ein Teil des Ganzen.

Ja, auch die sprühende Lebensfreude ist gewollt.

Ja, auch die Kraft des Kreativen ist eine ordnende Kraft.

Ja, auch das Sterben gehört zum Leben.

 

So gehört der Segen in den Bereich dessen, was das Leben gründet, ihm Sinn und Tragfä­higkeit verleiht. Segen gibt uns Zugang zum Grund unseres Seins. Oder wie das Volkslied singt: „In einem kühlen Grunde steht meiner Heimat Haus, da zog ich manche Stunde zum Tal hinaus“. In diesem Landschaftsbild erfahren wir, was „Grund des Seins“ meint: Heimat, Quelle und Rückzugsmöglichkeit zugleich.

 

Der Segen kommt zu uns als Wort, das wir hören, dessen Klänge uns vertraut sind.

Segen kommt räumlich zu uns, wenn die Pastorin oder der Pastor die Hände erheben und eine Verbindung im Raum entsteht. Segen schwingt dann wie eine Saite der Geige im Resonanzboden.

Und Segen spüren wir auf unserem Leib. Handauflegen bei der Konfirmation, bei der Trauung oder wenn eine Freundin uns ein Zeichen auf Stirn oder Hände gibt, dann geht Segen unter die Haut.

Segen bekräftigt uns an unserem Ort, gibt uns Würde und läßt uns die Gegenwart der guten Mächte erfahren. So kann eine Situation zur Begegnung mit dem Heiligen werden.