Hanna Strack » Sappho

Sappho, längst verstummte Dichterin

Deine Schriften nur bruchstückhaft überliefert

Fragmente, die mich aber heute noch berühren

Sappho

Deine Geschichte zu erzählen, will ich mich heute aufmachen:

 

Sappho hätte die Großmutter von Sokrates sein können – etwa um 600 v.Chr. in der Stadt Mytilene auf Lesbos, der Insel der Frauen, geboren. Ähnlich wie Sokrates, der Hebammen-Denker, nach ihr sammelte sie einen Kreis junger Mädchen und Frauen um sich, die sie lehrte und ausbildete. Wozu?

War es eine Priesterinnenschule, die in den „Apfelhainen und Rosengärten von Mytilene“, die Sappho besingt, die Göttin beschworen, Aphrodite oder Hera?

Wenig ist klar zu benennen, vieles ist Legende.

 

Apfelhaine sind von alters her die Gebiete der weisen Göttinnen der Liebe und der Geburt, des gesamten Lebensschicksals. Gerade der Apfel ist ein Symbol des lebendigen Kosmos. Quer durchgeschnitten zeigt sich im Innern ein Fünfstern, der die Phasen des Erdjahrs darstellt. Der Fünfstern ist außerdem ein Symbol des aufgerichteten Menschen und der Endpunkte seines Körpers.

Neben dem Apfel wird immer wieder der Mond in den Gedichtfragmenten zitiert. Spielt er im Kult der Sappho eine bedeutende Rolle? Nirgends aber nennt sich die Dichterin Botin oder Dienerin der Göttin. Sie versteht sich vielmehr als gleichgestellte Freundin, lädt die Göttin zum Gespräch in ihren Garten, fragt um Rat in Liebesnöten, klagt ihr das Geschick der Frauen, die nicht selbstbestimmt bei ihr bleiben können, sondern an fremde Männer verheiratet, einem Leben voller Gewalt entgegensehen.

Tot sein, ehrlich, ich wünsch es mir.

Vor mir weinte sie, während sie Abschied nahm,

viele Tränen und sagt:

„Ach, wie Schlimmes erfahren wir,

Sappho, ja, wider Willen verlass ich dich.“

 

Wenn sich Sappho ihrer inneren Einkehr überläßt, wenn sich in diesem Moment die Göttin inkarniert, wird sie lyrisch, schreibt sie Gedichte. In ihrem Dichten fängt sie den Rhythmus des Lebens ein, der Schöpfung, den Gang der Götter und Göttinnen.

 

Im Gegensatz zu Sokrates und Plato ein Jahrhundert später spaltet sie ihr Denken nicht auf in Leib und Geist. Sie denkt und handelt von einem ganzheitliche Spüren und Fühlen, Leiden und Begehren aus. Keine abstrakte Ethik, kein abstraktes Ideal von Schönheit ist ihr Ziel, sondern „was ich liebe, ist für mich schön. Was ich begehre, ist gut!“ Wie Antigone steht Sappho für ein älteres Gesetz, das im Begriff ist, gegenüber der abgespalteten patrairchalen Denkform unterzugehen. Es ist dies ein Selbst-Bewußtsein, das aus der Einheit von Bewußtsein und Begehren lebt, das Gedanken und Gefühle als zwei Seiten einer Medaille sieht. Gerade darum nimmt sie die Ambivalenz der Gefühle wahr, leidet, verdichtet dieses Leiden in Gesängen.

 

Obwohl Sappho mit einem Mann lebt und Kinder mit ihm hat, spielt das Begehren zwischen ihr und den jungen Frauen eine große Rolle. Niemand, keine Frau kann andere lehren, ohne daß ein Gleichklang der Gefühle, des Denkens da ist, ein Hingerissensein auf ein gemeinsames Grösseres. Diese erotische Komponente in der Frauengemeinschaft von Sappho ist immer wieder lächerlich gemaacht wordern. Sokrates jedoch mit seiner Verherrlichung der Knabenliebe als Grundlage seiner Philosophie scheint akzeptabel.

 

Alles, was Sappho schafft und dichtet, dient dem einen, nämlich eine wahre Philo-Sophia hervorzubringen, eine Weisheitslehre, die dem Leben dient, statt den Tod zu verherrlichen.

Mit Sorge sieht sie den Übergang in ein neues Zeitalter, sieht die Veränderungen, die sich am Horizont zeigen. Sieht sich als Vergessene, Verlorene, an die niemand mehr denkt, „… eine Entflogene“.

Trotzdem sie von der offiziellen Philosophiegeschite tatsächlich verschwiegen und unsichtbar gemacht worden ist, haben sich doch immer Frauen an sie erinnert. So läß die Dichterin Nossis im 6.Jdt.d.Chr. auf ihrem Grabstein einmeißeln: „Wer an meinem Grabe vorübergeht, soll nach Mytilene reisen, in die Heimat der Sappho und  laut den ruhm der Dichterin kundtun.“

Wie Sappho gestorben ist, ist unbekannt.

 

Brigitte Enzner-Probst

aus: FrauenKirchenKalender 2001