Hanna Strack » Predigt zu Gal 2, 16-21



Liebe Gemeinde!

Heute will ich Ihnen von einer Frau erzählen – nennen wir sie Stephanie – sie ist jetzt 70 Jahre alt. Stephanie entdeckte eines Tages in ihren alten Tagebüchern, dass sie oft Träume niedergeschrieben hatte.

Und dann fiel ihr auf, dass unverhältnismäßig oft von Töten, Sterben, Totsein die Rede war und dass jedes Mal dann Sätze kamen wie „ich lebe aber noch“, „aber ich sterbe nicht“ oder „ich bin aber nicht tot“.  Oder sie bekommt im Traum eine Gegenspritze, die dem tödlichen Gift entgegenwirkt.

Es sind schreckliche Träume und dennoch voll Hoffnung, denn der Tod weicht immer dem Leben!

 

Stephanie ist in ihrer Kindheit und Jugend sehr stark geprägt worden von einer Kirchgemeinde und Jugendarbeit, wo Sünde und Erlösung eine zentrale Rolle spielten, einerseits und andererseits von einer Mutter, die klagend und leidend ihr Dasein als Kriegerwitwe nie verkraften konnte und den Kinder eine negative Einstellung zu einem Leben voll Angst vermittelte.

 

Stephanie fühlt sich heute vom Zwang dieser Prägung befreit und das – wie sie selbst sagt – hat sie der befreienden Botschaft von Jesus zu verdanken, die sie als Erwachsene im Kontakt mit anderen Christinnen und Christen erlebt hat. Wenn Stephanie auf diese Zeit zurückblickt, sagt sie, dass sie ihre zweite Identität, ihr zweites Leben, gewonnen habe.

 

Ich will Ihnen einige dieser Träume erzählen. Stephanie träumt: „Ich soll getötet werden und sitze deshalb auf einem Explosionsstoff mit Zündschnur. Aber ich bin nicht tot und auch beim zweiten Versuch bleibe ich am Leben, gehe vergnügt zu einem Kinderspielplatz.“

Ein anderer Traum ist ebenso erschütternd: „In dem Zimmer, in dem ich als Schülerin wohnte, wird jede Nacht ein Mädchen geköpft, ich sehe den Rumpf mit dem abgeschnittenen Hals aus dem Schrank fallen. Ich beriet mich mit jemandem draußen im Flur, was zu tun sei: er sagte: Briefe schreiben.“

Und ein dritter Traum: „Ich weiß, ich muss sterben. Ich lasse mir schon mal eine Spritze geben und soll danach in zwei Stunden tot sein. Ich lege mich schon mal in den Sarg, der mir sehr eng vorkommt. Dann fällt mir mit Schrecken ein, dass ich mich von meinen Söhnen noch nicht verabschiedet habe. Jemand will sie rufen, sie können aber nicht so schnell kommen. Jetzt will ich unbedingt wieder aufstehen und bitte um eine Spritze, die dem tödlichen Gift entgegenwirkt. Ich gehe auf die Suche nach einem Arzt. Dann bekomme ich eine Gegenpille und lebe weiter!“

Diese Träume sind so erschreckend, weil sie so tief sind, weil sie Tod und Leben so unmittelbar und unverdeckt ansprechen.

 

Dann ist da eine Reihe ganz anderer Träume. Sie zeigen Stephanie den Weg, den sie gehen soll. So träumt sie: „Ich bin in der Schule. Das Aufsatzthema lautet: Die Einheitsformel. Ich rätsele lange, was das sei, dann weiß ich es: Gott und ich. Ich überlege noch, ob es ein Hausaufsatz oder eine Schulaufgabe ist.“ Stephanie erfährt, dass Gott das Ganze, Ungeteilte, der Urgrund allen Seins ist und nicht der oberste Pädagoge oder Polizist, wie ihr gelehrt worden war. Dieser Traum kam in ihr hoch, als sie begann, sich mit anderen Christinnen und Christen auszutauschen.

 

Ein andermal träumt Stephanie, nachdem sie in einer Gruppe die Erzählung von Jesus und der Samariterin am Brunnen als Bibliodrama erarbeitet hatte: „Ich gehe über eine Wiese in eine Höhle, drei Freundinnen von mir sind auch dabei. In der Mitte am Boden sehe ich ein hellblaues stehendes Wasser: Es ist das Wasser des Lebens. Ich bade nackt darin. Ich sehe mich deutlich darin liegen. Beim Aufwachen habe ich das glückliche Gefühl: Ich habe im Wasser des Lebens gebadet!“

 

Dieses Beispiel zeigt uns den Befreiungsweg einer Frau. Das hilft uns nun, den sehr abstrakten Predigttext zu verstehen. Der Apostel Paulus denkt darüber nach, warum er von einer starren und engen Gesetzesreligion weg und zum Glauben an den Messias Jesus Christus kam. Seine Begriffe wie „Werke des Gesetzes“ und „gerecht vor Gott“ sind uns im Alltag ja nicht geläufig.

Paulus schreibt im Brief an die Gemeinden in Galatien, eine Gegend in der heutigen Türkei, ich lese diesen unseren Predigttext vor:

Wir wissen, dass kein Mensch ins Recht gesetzt wird durch vorschriftsmäßige Erfüllung der Gesetzesverordnung, sondern nur durch die Treue Jesu, des Messias. Darum sind auch wir zum Vertrauen an den Messias Jesus gelangt, damit wir ins Recht gesetzt würden aus der Treue des Messias und nicht aus vorschriftsmäßiger Erfüllung der Gesetzesverordnung. Denn aus vorschriftsmäßiger Erfüllung der Gesetzesverordnung gibt es keine Gerechtigkeit für die Menschheit als ganze. … Denn ich bin durch das Ordnungsgesetz für die Gesetzesordnung gestorben, damit ich für Gott lebe. Mit dem Messias bin ich mitgekreuzigt worden. Und ich lebe nicht mehr als ich, sondern in mir lebt der Messias. Was ich jetzt in meiner leiblichen Existenz lebe, lebe ich im Vertrauen auf das Kind Gottes, das mich geliebt und sich selbst ausgeliefert hat für mich. Ich erkläre nicht das Geschenk der Zuwendung Gottes für null und nichtig. Denn wenn die Gerechtigkeit durch die gesetzte Ordnung käme, wäre der Messias umsonst gestorben.“

 

Soweit die Verse aus dem Galaterbrief.

Wir können dies heute so verstehen: Jesus Christus befreit uns aus den Fängen der Prägungen. Das tut er durch seine Botschaft, seine Art, den Menschen zu begegnen und seiner Hingabe im Tod und seine Auferweckung durch Gott. Denken wir nur an Maria Magdalena, die Jesus von sieben Dämonen befreit hat!

 

Wie passen denn nun dieses beides zusammen, Stephanies Weg aus der engen Prägung in die Befreiung durch einen persönlichen, stärkenden Bezug zu Gott und diese Argumentation von Paulus?

 

Ich lese den Briefteil noch einmal und füge beides zusammen, die streng theologische Sprache des Paulus und die befreiende Glaubenserfahrung von Stephanie:

 

„Wir wissen, dass kein Mensch ins Recht gesetzt wird durch vorschriftsmäßige Erfüllung der Gesetzesverordnung oder dem Gehorsam gegenüber der Erziehung, sondern durch die Treue Jesu, des Messias. Darum sind auch wir zum Vertrauen an den Messias Jesus gelangt, damit wir ins Recht gesetzt würden aus der Treue des Messias und nicht aus vorschriftsmäßiger Erfüllung der Gesetzesverordnung. Denn aus vorschriftsmäßiger Erfüllung der Gesetzesverordnung gibt es keine Gerechtigkeit für die Menschheit als ganze. Aus Gehorsam gegenüber der Prägung in seinen Kinder- und Jugendjahren kommt niemand zu Gott, sondern durch den befreienden Glauben an Jesus Christus, der allen Menschen mit Offenheit und Liebe begegnete und sie zu nichts gezwungen hat. … Denn ich bin durch das Ordnungsgesetz für die Gesetzesordnung gestorben, immer wieder getötet worden, wie meine Träume zeigen, damit ich für Gott lebe. Die Einheitsformel heißt „Gott und ich“. Mit dem Messias bin ich mitgekreuzigt worden. Und ich lebe nicht mehr als ich, sondern in mir lebt der Messias, die Liebe und Kraft Jesu, das ist meine zweite Identität. Ich fühle mich wie neu geboren aus dem Wasser des Lebens, das Christus gegeben hat. Was ich jetzt in meiner leiblichen Existenz lebe, lebe ich im Vertrauen auf das Kind Gottes, das mich geliebt und sich selbst ausgeliefert hat für mich. Wie Christus habe auch ich Tod und Auferstehung in meinem seelischen Erleben erfahren, damit ich befreit und unmittelbar zu Gott bin. Ich erkläre nicht das Geschenk der Zuwendung Gottes für null und nichtig. Denn wenn die Gerechtigkeit durch die gesetzte Ordnung, durch die übergroß strenge Prägung, käme, wäre der Messias umsonst gestorben.“

 

Das Ostergeschehen von Kreuzestod und Auferstehung hat solch eine große Bedeutung! Das drückt sich auch im Traum einer anderen Frau aus. Diese ist an Leukämie erkrankt und sie erzählt den Traum ihrer Therapeutin: „Ich war wie gestorben, da beginnt es aus mir heraus das Oster-Halleluja zu singen, immer lauter wird es, identisch mit mir und doch nicht nur ich: Alles wird zum Gesang – ich lebe.“

 

Liebe Gemeinde,

Das können wir heute mit nachhause nehmen: Es gibt eine Botschaft, die uns von Zwängen befreit. Und sie heißt: aus der Kraft Gottes und aus der Liebe Jesu heraus sind wir wahrhaft lebendig! Das ist unser Lebensweg! Er führt uns zu einer lebendigen Gottesbeziehung dank Jesus Christus.

Amen

 

Fürbittgebet:

(Nach den Bitten jeweils das „Kyrie eleison“ der orthodoxen Kirche EG 178.9 Bayern ect.)

 

Gott, die du uns hältst und trägst und nährst wie eine Mutter, wir bitten dich für alle Kinder, die in Kriegs- und Dürregebieten aufwachsen und von Angst beherrscht werden:

Kyrie eleison

Gott, der du durch Christus die Unterdrückten befreist, wir bitten dich für alle, die dem Fundamentalismus verfallen sind und meinen, andere unterdrücken zu müssen:

Kyrie eleison

Gott, die du die Sehnsucht deiner Kinder stillst, wir bitten dich für die im Atheismus Erzogenen, dass sie die Sehnsucht nach dem Mehr im Leben zu dir führt:

Kyrie eleison

Gott, der du uns nicht die Gesetzesordnung sondern das Vertrauen in den Messias anbietest, wir bitten dich um die Auflösung aller verkrusteten kirchlichen Strukturen:

Kyrie eleison

Gott, die du uns die Chance für ein zweites Leben eröffnest, wir bitten dich für alle, die unter der Prägung in ihrer Kindheit, ja schon vorgeburtlich, leiden:

Kyrie eleison

 

Kurze Meditation

Texte zur Rechtfertigungslehre sind immer sehr abstrakt und deshalb ist es schwer, sie in das heutige Leben zu vermitteln.  Es gibt zu viele dieser Art von Texten in der Perikopenreihe, wo Frauentexte sowieso zu kurz kommen. Wann endlich kommt eine Revision der Perikopenordnung?

Die Situation dieser Textstelle ist eine forensische: vor Gott, dem Richter steht der Mensch als angeklagter, Christus bietet sein Opfer an, wodurch der Angeklagte in Gottes Augen gerechtfertigt ist.

Für die Predigt über solche Texte gibt es zwei Möglichkeiten: entweder den theologischen Sachverhalt anschaulich darzulegen und so die Gemeinde in dieses forensische Denken einzuführen oder eine Parallelsituation im menschlichen Leben aufzugreifen. Ich tue in der Predigt das zweite: Eine eigene stärkende, weil befreiende Gottesbeziehung kann sich ereignen durch das Vertrauen in Jesus, in sein Wort, seine Tat und sein Sterben und Auferstehen. Denn dieses Vertrauen befreit von belastenden Prägungen aus der Kindheit.

Die theologische Anregung dazu erhielt ich durch das Buch von Monika Renz: Erlösung aus Prägung. Botschaft und Leben Jesu als Überwindung der menschlichen Angst-, Begehrens- und Machtstruktur, Junfermann Verlag, Paderborn 2008.

Monika Renz ist Musiktherapeutin in der Onkologie, St. Gallen. Sie geht der Frage nach, was letztlich heilt und erlöst. In der Botschaft Jesu sieht sie einen Dynamismus, der von Angst-, Begehrens- und Machtstrukturen erlösen kann. Dort steht der letztgenannte Traum auf S. 265.