Hanna Strack » Ina Praetorius, Rainer Stöckli (Hgg): Wir kommen nackt ins Licht

 

Ina Praetorius und Rainer Stöckli, Foto: Marcel Steiner, Appenzell

 

 

Ina Praetorius, Rainer Stöckli (Hgg): Wir kommen nackt ins Licht, wir haben keine Wahl. Das Gebären erzählen, das Geborenwerden. 150 Szenen aus der Schönen Literatur zwischen 1760 und 2011, Appenzeller Verlag, Herisau 2011, ISBN 978-3-85882-568-1

 

Es ist ein schwer gewichtiges Buch und das nicht nur äußerlich. Es stellt uns Lesenden Autorinnen und Autoren vor, die wir noch nicht kannten, führt uns in ihr Werk ein, es zeigt uns auf, was Natalität bedeuten kann noch über Hannah Arendt hinaus, nämlich ganz konkret. Fast auf jeder Seite werden wir ZeugInnen eines Dramas, aus dem eine neue Schöpfung hervorbricht, sei es aus der Perspektive des Kindes, auch des Ungeborenen, der Gebärerin, der Hebamme, der Vaters oder der Umstehenden. Wir blicken in eine ungeordnete, überbordende, erschreckende Unklarheit über das, was ich Geburtskultur nennen möchte. Wie gebären Frauen? Die Geschichten sind stark in der Bewunderung der Kraft, Leidensfähigkeit und Hingabe der Frauen, ebenso aber in der Abwehr dessen, dass es bei Geburten so dramatisch zugeht und die Umstehenden hilflos werden lässt. Von Elias Canetti und Ingeborg Drewitz bis Liisa Laukkarinen und Ludwig Fels, von Carl Zuckmayer und Friedrich Dürrenmatt zu Peter Handke und Ulla Berkéwicz, viele Texte aus der Schweiz – eine unglaubliche Fülle! Aber alle zeichnet aus, dass sie da etwas beschreiben, das jeden kulturellen Rahmen sprengt.

Rainer Stöckli, auf dessen Sammlung das Buch zurückgeht, führt aus acht verschiedenen Blickwinkeln in das Buch ein: „Uns Herausgeber hat … das literatisierte Gebären in Bann gezogen. Tatsächlich erfindet Belletristik nicht nur bis auf den heutigen tag disparateste Sterbe-Vorgänge, sondern heckt auch absonderlichste Endschwangerschafts- und Geburts-Verläufe aus.“ (S.14).

Ina Praetorius ist eine zuverlässige Herausgeberin, eine Philosophin, die das Menschsein bedenkt. Sie beginnt mit einer Betrachtung über „Im Anfang war der Logos“, das Sprechen über die Geburt. Nur die Mutter kann mir über meine Geburt etwas sagen. Ina Praetorius verweist auch hier wieder auf die Geburtsvergessenheit: „Die Leistungen der Mütter fürs Fortbestehen der Menschheit … schloss sie (sc. die Menschheit) aus der Geschichte, dem öffentlichen Leben aus.“ (S.208) Ich selbst habe eine lange Liste von Gründen gesammelt, weshalb das selbst so unter Frauen ist, wobei die vermeintliche Rücksicht auf Frauen ohne Kinder eine große Rolle spielt. Jährlich erleben in Deutschland fast 1 Million Frauen den Beginn einer Schwangerschaft. Ina Praetorius zitiert Immanuel Kant, der es als Kränkung empfand, dass wir wie Tiere gezeugt und geboren werden. Sie kommt mit vielen Philosophen und mit Lucy Irigaray und Luisa Muraro ins Gespräch. Theologische Aussagen werden haltlos, die zweite Geburt aus dem Geist zurechtgewiesen.

Mit dieser Sammlung von Erzählungen über das Gebären wird die Gender-Debatte um eben dieses Wesentliche bereichert, das im Feminismus oft zu kurz kam: die Schöpfungskraft der Frau.

Das Buch weist uns darauf hin, dass wir Frauen uns zweierlei nicht entgehen lassen sollten: die Gestaltung der Geburtskultur und den Erkenntnisgewinn über das Menschsein und über den Glauben, den die Zeit von Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt bis zur Stillzeit eröffnet. Damit führen wir, so das Interesse der Herausgebenden, den von Hannah Arendt eingeleiteten Perspektivenwechsel von der Mortalität zur Natalität weiter.

Ein Triptychon von Anne-Marie Salome Brenner zeigt die Schwangere, Gebärende und Stillende.

Eine Rezension kann nur Neugierde wecken auf die vielen Anregungen zum Weiterdenken!

 

 

Hanna Strack