Hanna Strack » Hebammen: Führerinnen in ein neues Leben

 

 

 

Bild von Albrecht Dürer:

die Geburt Mariens aus dem Zyklus „Marienleben“ um 1503

 

 

 

Führerinnen in ein neues Leben

 

In vielen Ländern und Kulturen war es so: Nachbarinnen halfen einander beim Gebären und beim Sterben. In unserer Tradition übten Frauen eines Ortes diese Funktionen aus, bevor sich daraus Berufe entwickelten. Sie bildeten eine eigene Solidargemeinschaft der Frauen, die einander Hilfe und Trost in Notsituationen zukommen ließ, aber auch gemeinsam Feste und Riten feierte.

 

Frauenkultur bei Geburt und Tod

Auch in der Bibel begegnet uns diese Gruppe: Im Buch Rut segnen die Frauen und geben dem Kind einen Namen. Rut 4, 14+17

Simultan-Bilder von Wochenstuben zeigen uns die Frauen in Aktion: Eine stützt der Gebärenden den Rücken, eine andere kniet vor ihr, um das Kind mit ihren Händen zu empfangen, eine dritte badet das Kind, eine vierte bringt der Wöchnerin die stärkende Kindbettsuppe. Und dann feiern sie alle die „Kindbettzeche“ oder „Wohlleben“,  wie auf dem Bild von Dürer links unten, mancherorts mit Tänzen.

Auch beim Sterben halfen sie einander. Vielerorts begleiteten sie den Sarg, in dem ein zu früh verstorbenes Kind oder eine junge Mutter lag, die beide wegen ihrer Unreinheit und Erbsündhaftigkeit vom Ortspfarrer nicht beerdigt wurden. Sie legten Rosmarinkränze in den Sarg  als Symbole des Todes, des Lebens und der Liebe.  So standen sie symbolisch und praktisch für beide Übergänge im menschlichen Leben. Diese weibliche Kultur wurde ausgetrocknet durch die vom Hausvater repräsentierten Familien-Feste und durch die Einrichtung von Krankenhäusern.

 

Ein Frauen-Netzwerk heute

 

Eine Solidargemeinschaft von Frauen, wenn es sie denn heute gäbe, hätte andere Aufgaben: Die Schwangere in ihren Ängsten, die durch die vielen Untersuchungen der Pränataldiagnostik paradoxerweise entstehen, begleiten, schützen, stärken, beim Baby-Blues für sie eine Familie bilden, in Notfällen, wenn das Kind krank oder behindert geboren wurde oder wenn es gestorben ist, ein Netz sein, das die Frau und ihre Familie auffängt.

Diese Communitas der Frauen beim Ankommen in dieser Welt und beim Abschied aus dieser Welt könnte darüber hinaus auch dem breiten Spektrum der großen Gefühle von Seligkeit und Leid, von Glück und Entsetzen in frauengerechten Ritualen und Liturgien eine spirituelle Form geben. Die Ethnologin und Hebamme Angelica Ensel schreibt: „So wie das Bewusstsein, in einer Gemeinschaft getragen und handlungsfähig zu sein, Frauen im Zustand einer Krise erden kann, so kann Spiritualität eine Verbindung erzeugen, die das individuelle Schicksal in einem weiteren Kontext verortet.“

 

Hanna Strack

aus: FrauenKirchenKalender 2010

 

Literatur:

Angelica Ensel: Vertrauen und Macht. Ethische Implikationen für die Kommunikation im Kontext von Pränataldiagnostik, www.hanna-strack.de

 

Waltraud Dumont Du Voitel: Hebammen im Odenwald, in Wulf Schiefenhövel, Dorothea Sich, Christine E. Gottschalk-Batschkus (Hg): Gebären – Ethnomedizinische Perspektiven und neue Wege, Berlin 31995

 

Eva Labouvie: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln ²2000

Dies.: Geburt und Tod in der Frühen Neuzeit. Letzter Dienst und der Umgang mit

besonderen Verstorbenen, in: Schlumbohm, Jürgen u.a.: Rituale der Geburt, Becksche Reihe 1280, München 1998