Hanna Strack » Gott, du Große Weberin

Ansprache bei der Gedenkfeier, anschließend Gang zur Gedenkstätte, die Susanne Schniering geschaffen hat, siehe auch ihr Buch: „Ich trage dich in meinem Herzen“ ‚ISBN 978-3-00-028576-9

 


Liebe Mütter und Väter, liebe Geschwister, Freundinnen, Freunde und Verwandte!

 

Sie sind alle hierher gekommen, weil Sie dankbar sind dafür, dass Sie einen Ort gefunden haben, wo Sie trauern können, einen Ort der Erinnerung an einen großen Verlust, eine Erinnerung, die immer in ihrer Seele wohnen bleibt, denn mit Ihrem Kind ist seine ganze Zukunft weg gebrochen, während Sie selbst diese Zukunft leben müssen!

Susanne Schniering lernte ich auf dem Katholikentag in Hamburg kennen, sie stand plötzlich vor mir und sagte: „In Ihrem Verlag will ich ein Buch veröffentlichen!“ Als ich das Thema hörte, erinnerte ich mich an mein Schlüsselerlebnis: eine Nachbarin berichtete mir von ihrer Fehlgeburt. Und das hat mich bis heute nicht mehr losgelassen. Und deshalb haben wir das Buch „Ich trage dich in meine Herzen“ gemacht.

Viele kommen hier auch her, weil sie einen Vater, Bruder oder Verwandten betrauern, der im Krieg gefallen ist und dessen Grab sie nicht kennen oder nicht besuchen können. Zu diesen zähle auch ich mich. Als ich Anfang dieses Jahres zum ersten Mal die Briefe meines Vaters bewusst las und ordnete, wurde ich – 60 Jahre nach seinem Tod – von dem Gefühl der Verlassenheit ergriffen.

Ich stelle diese Ansprache unter ein Psalmwort. Psalmen wurden von Männern und auch wohl von Frauen auf Grund von Erfahrungen geschrieben, Erfahrungen, die uns verbinden, ganz gleich aus welcher Geisteshaltung oder Lebensphilosophie wir uns ernähren.

 

So spricht und bekennt die betende Person des 139. Psalmes Vers 13 und 15:

Du, Gott, hast  mich gewoben im Schoß meiner Mutter. … mein Gebein war dir nicht verborgen, da ich im Dunkeln gebildet ward, kunstvoll gewirkt in Erdentiefen.“ (nach der sog. Zürcher Übersetzung, die dem Urtext nahe kommt).

 

Im Mutterleib hast du mich gewoben, kunstvoll gewirkt in Erdentiefen– hier spricht der Psalm von einem Großen Weber, einer Großen Weberin, die jeden Menschen schon vor der Geburt als einen Faden in das Gewebe des Lebens einwebt.

Dem wollen wir uns in dieser Stunde anschließen. Wie durch Kette und Schuss ist alles zu einem großen Gewebe miteinander verwoben und verbunden, vernetzt und  in Beziehung zueinander gebracht. Das Bild von Gott als der Großen Weberin mag Ihnen jetzt sehr ungewohnt sein. Es kommt der naturwissenschaftlichen Sicht sehr nahe und kann uns heute bedeutsamer werden als das Bild vom männlichen Schöpfergott, der einstmals die Welt erschuf.

Der Kosmos – die Weite des Sternenhimmels – , die Natur, die uns umgibt, die Mutter Erde, die uns ernährt, und wir Menschen alle, das alles zusammen bildet das Gewebe des Lebens, den Teppich des Lebens, aus vielen Fäden und kleinen und in schönen, in großen und in erschreckenden Mustern. Zwischen den farbenfrohen und den herzerfrischenden Mustern hat die Große Weberin auch Schmerzen und Trauer, Schweiß und Blut mit eingewoben. So webt die Gottheit mit jedem neuen Menschen einen neuen Faden in das Gewebe ein, lässt seine Farben leuchten und lässt ein Muster entstehen. Sie entscheidet selbst, welchen Faden sie zu welcher Zeit abschneidet. Dabei nimmt sie ihn nicht heraus aus dem Muster des Gewebes, sondern sie beendet ihn.

 

Die Dichterin Marie Luise Kaschnitz hat in ihrem Gedicht „Der Teppich des Lebens“ es so ausgedrückt:

Der Faden, überall zum Kreuz gespannt,

Birgt ein Geheimnis, das mich oft bewegt.

Denn einer Masche gleich in den Geweben

Scheint unser Leben zwischen tausend Leben.

(M. L. Kaschnitz: Der Teppich des Lebens, in: Gesammelte Werke, Insel Verlag 1985,  Bd. V, S.80, mit freundl. Genehmigung des Suhrkamp-Verlages))

 

Im Mutterleib hast du mich gewoben – Wir gedenken heute und hier all der Kinder, deren Faden  im Mutterleib gewoben wurde und die aber den Große Weberin zu früh, zu bald, zu schnell wieder abgeschnitten hat, noch bevor ihre Mütter sie gebären konnten, noch bevor eine Hebamme sie von der Nahrung des Mutterkuchens zur Nahrung an die Mutterbrust legen konnte.

Vor unserem inneren Auge sehen wir diesen Teppich des Lebens, wir sehen diesen einen kleinen Faden, der in einem Muster zu leuchten begonnen hatte, der die anderen Fäden zu berühren begonnen hatte, ja, der die Schönheit eines Musters schon mitgestaltet hatte.

Wir sind hier, weil wir diesen kleinen Faden im Teppich des Lebens sehen. Vielleicht vermögen Sie sogar seine Farbe zu erkennen, die wie eine persönliche Aura, wie ein Licht um Ihr Kind leuchtet.

Wenn Sie dieses zu sehen versuchen – aber nicht jedem ist die Gabe der inneren Bilder verliehen, sodass es das Nach-Denken ist, das das innere Bild ersetzt – wenn Sie also Ihr Kind wahrnehmen in seiner Würde, dann tun Sie dasselbe, was der Prophet Jesaja von sich selbst bekannt hat über die Zeit, noch ehe er geboren war:

 

„Gott hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er  meinen Namen genannt.“ (Jes 49,1).

 

Sie alle haben, und darum sind Sie heute hier – Ihrem zu früh verstorbenen Kind einen Namen, eine leuchtende Farbe gegeben und bekennen, dass es unauslöschlich eingewoben ist in das Gewebe des Lebens.

Die Gedanken Ihres Herzens wandern dann mit dem Kind weiter bis in die Gegenwart. Sie erkennen in kurzen, ergreifenden Augenblicken: Heute wäre mein Kind so alt wie das Nachbarskind, heute hätte es die Schule zum ersten Mal besucht, heute hätte es wie das Nachbarskind geheiratet. Daran erkennen wir deutlich, was ich zu Beginn sagte: Mit dem Kind ist die Zukunft gestorben, eine Zukunft, die Sie selbst aber leben müssen, ja gewissermaßen stellvertretend für Ihr Kind leben müssen. Da ist nicht nur Bitterkeit, das Sie fühlen. Es ist auch die Lebendigkeit, die Sie weitergeben mit Ihrem blutenden und auch pochenden Herzen, das mit seiner Wärme das Kind umgibt, schützt, geleitet. Und mit dieser Wärme bekennen sie sich zu Ihrem Kind.

Und – wenn ich noch einmal das Bild vom Gewebe aufnehmen darf: Sie lassen mit der Gottheit zusammen nicht zu, dass der Faden herausgezogen wird, sie lassen ihn leuchten an seinem Ort im Gewebe des Lebens und tun das mit der Kraft Ihres Herzens, sie geben mit Ihrer Wärme dem Kind seine Würde.

Als das Kind im Schoß seiner Mutter war, hat Gott es gewoben, hat Gott seinen Namen gerufen, hat die Große Weberin seinem Lebensfaden eine leuchtende Farbe gegeben. So sei es, Amen!

 

 

Segen

 

Gott, die Große Weberin, segne euch alle!

Der Segen durchströme euch

wie euer blutendes und pochendes Herz

euch lebendig erhält!

 

Gott, die Große Weberin, segne euch alle!

Der Segen schenke euch ein Licht

vom kleinen Faden eures Kindes

bis in das Heute und Hier!

 

Gott, die Große Weberin, segne euch alle!

Der Segen wärme euch,

die ihr stellvertretend weiter lebt

und lasse durch euer Gedenken

die Wunden heilen!

 

Gesegnet ist eure Trauer!

Gesegnet sind eure Narben!

Gesegnet ist die Wärme eures Herzens!

Amen