Hanna Strack » Evelyn Underhill

Evelyn Underhill 1875-1941

In Deutschland ist Evelyn Underhill bekannt geworden durch ihr großes Werk über die Mystik als Weg des Glaubens. Als Tochter eines wohlhabenden Juristen im Londoner Stadtteil Kensington geboren gehörte Evelyn Underhill mit ihrer Familie selbstverständlich zur anglikanischen Staatskirche, aber der christliche Glaube spielte zunächst keine besondere Rolle in Evelyn’s Erziehung.  In ihrer Zeit hatten Frauen nur begrenzte Möglichkeiten hatten, eine höhere Bildung zu geniessen, doch sie durfte, die ‘Damenabteilung’ des neugegründeten King’s College in London zu besuchen, um dort Sprachen, Philosophie und Botanik zu studieren.1907 heiratete sie Henry Stuart Moore, ihre Jugendliebe und ein enger Freund seit ihrer Kindheit. Auf Reisen mit ihrem Mann entdeckte sie die Faszination der persönlichen Spiritualität in den verschiedenen Konfessionen. Sie verbrachte Stunden im Lesesaal der British Library, um die Werke der grossen MystikerInnen zu studieren und fand dort Rat für ihre eigene Suche nach Gott. Was sie in den Kirchen in ihrer Umgebung sah, liess sie unbefriedigt. Sie fing an, die Messe in der römisch-katholischen Kapelle eines Londoner Colleges zu besuchen. Dabei erlebte sie das Mysterium der Messfeier, ohne jemals die Eucharistie zu empfangen. Doch die Sorge ihres Verlobten über ihre Beziehung zu ihrem Beichtvater und die Verurteilung modernistischer Denkrichtungen durch den Papst hielten sie davon ab, zu konvertieren. Mußten nicht persönlicher Glaube und wissenschaftliche Forschung miteinander gehen?1911 veröffentlichte Evelyn Underhill ihr erstes grosses Werk Mystik. Darin vereinigt sie ihr Interesse an einer ganzen Reihe christlicher Traditionen mit den Erkenntnissen von Psychologen und nicht-christlichen Autoren wie zum Beispiel Rabindranath Tagore, ein indischer Dichter und Gelehrter. Sie hat mit diesem auch ins Deutsche übersetzte Buch sehr vielen Menschengeholfen, die innere Seite des Glaubens wieder zu entdecken.

Während des ersten Weltkrieges war Evelyn Underhill in der Seeabwehr tätig und kümmerte sich um Soldatenfamilien. 1920 wurde sie eingeladen, eine Vorlesungsreihe am unitarischen Harris Manchester College in Oxford zu halten – die erste Frau im Vorlesungsverzeichnis der theologischen Fakultät in Oxford! Damals wandte sie sich durch ein öffentliches Bekenntnis der Kirche ihrer Kindheit, der anglikanischen Kirche, zu. George Bell, Freund Dietrich Bonhöffers und Dekan der Kathedrale in Canterbury lud Evelyn Underhill ein, eine Reihe erbaulicher Vorträge für Frauen zu halten. Dies war der Anfang ihrer Tätigkeit als Leiterin von Einkehrtagungen, zunächst für Laien und später auch für Geistliche. In ihrem zweiten, 1936 erschienenen, Hauptwerk, Anbetung, schöpft sie den ganzen Reichtum der Spiritualität dieser Kirche aus. Daneben engagierte sie sich für gute Beziehungen der Kirchen untereinander. Der Ökumenische Weltrat der Kirchen wurde zu ihrem dritten Betätigunsfeld.

Evelyn Underhill, Schriftstellerin und eine der wichtigsten Denkerinnen der anglikanischen Kirche in diesem Jahrhundert, hat nie Theologie studiert. Sie war und blieb eine verheiratete Laiin und erfuhr in vielerlei Hinsicht die Beschränkungen, die ihr von der Gesellschaft auferlegt wurden. Und dennoch: sie war die erste Frau, die 1927 als Privatdozentin am King’s College London zugelassen wurde und erhielt später eine Ehrendoktorwürde von der Universität Aberdeen. Im Ersten Weltkrieg sah sie es als ihre Pflicht, in der Abwehr tätig zu sein. Den zweiten Weltkrieg jedoch erlebte sie als überzeugte Pazifistin. Evelyn Underhill starb im Jahr 1941.

Ihre wesentliche Leistung besteht in der Kombination von mystischer Spiritualität und Hingabe zur Kirche als Institution. Die Mystikerin im Sinne von Evelyn Underhill lebt nicht zurückgezogen, sondern wendet sich der Welt und vor allem den sozialen Missständen zu, denn mystische Spiritualität und soziales Engagement stehen nicht im Widerspruch zueinander. Deshalb nahm sie auch in den zwanziger Jahren an einer Konferenz über Politik, Wirtschaft und Christentum teil. Eine Reihe von Underhills wissenschaftlichen Erkenntnissen sind durch die neuere Forschung überholt. Was jedoch noch heute von Bedeutung ist, ist ihr Anliegen, ihre Suche nach dem Heiligen, dem göttlichen Mysterium, an ein breites Publikum weiterzugeben.

Natalie K. Watson