Hanna Strack » Die Komponistin Sofia Gubaidulina

Sofia Gubaidulina, geb.1931, eine Mystikerin der Musik

 

Diese moderne Komponistin, die heute in der Nähe von Hamburg lebt, hat einen langen äußeren und einen tiefen inneren Weg hinter sich. Beginnen wir beim äußeren Weg:

 

Sofia ist als Kind eines Tataren und einer Russin geboren. Der Großvater war islamischer Mullah.

Trotz der Hungerjahre haben die Eltern dem begabten Kind einen Flügel gekauft und es ausbilden lassen. Ihr Weg führte sie nach Kasan und Moskau zum Konservatorium, sie verdiente sich Geld mit Filmmusiken.

1974 gewinnt sie in Rom den ersten Preis im Kompositionswettbeweb für ihre Sinfonie „Stufen“. Für den großen Geiger Gidon Kremer komponiert sie in Wien das Violinkonzert „Offertium“. 1992 siedelt sie von Moskau um in das kleine Dorf Appen im Kreis Pinneberg bei Hamburg.

Der innere Weg der Komponistin ist nicht weniger erstaunlich: Als das atheistisch erzogene junge Mädchen zum ersten Mal eine Christusikone sieht, öffnet sich ihr die die religiöse Welt. „Weil ich noch unerfahren war, habe ich alles meinen Eltern erzählt. Und als die begriffen haben, dass ich religiös war, haben sie einen riesigen Schrecken bekommen. Das war doch verboten. So habe ich also meine psychologisch religiöse Erfahrung vor den Erwachsenen verborgen, aber sie lebte in mir weiter. Und die Musik hat sich auf natürliche Weise mit Religion verbunden, der Klang wurde für mich zu etwas Sakralem.“

 

Ihre eigentliche künstlerische Geburt erlebt sie 34 jährig. Sie macht eine radikale Kehrtwendung zur inneren Welt. In ihren Kompositionen verzichtet sie nun auf äußere Effekte. „Die erste ist die innere Welt und die zweite die äussere Welt, die durch die innere geht“, sagte die russische Dichterin Marina Zwetajea, die Sofia Gubaidulina sehr verehrt. Diese Worte beschreiben auch, wie Sofia Gubaidulina jetzt komponiert: Sie hält die Verbindung zur inneren Welt, zum Ewigen: „Zuerst höre ich in mir das Ende des Werkes. Ein phantastischer Zustand, sehr faszinierend und unfassbar. Dieser Klang zwingt mich, weiterzuarbeiten. Ich muss ihn enträtseln und eine Form dafür schaffen. Und das ist wirklich Arbeit.“ Sie komponiert, um Erde und Himmel zu verbinden, um die Wahrheit zu finden..

 

Und in den letzten Jahren ändert sich noch einmal ihr Weg. Sie spürt, wie sich unser ganzes Leben in Deutschland vom Religiösen zu Profanen hinwendet. „Jetzt wo alles erlaubt ist, ziehe ich mich mit meiner Beziehung zur Religion zurück. Ich habe aufgehört, mich über diese Themen zu unterhalten. Damit es mein Geheimnis bleibe. Und ich habe aufgehört, meinen Werken religiöse Titel zu geben.“

 

Für das Bach-Jahr 2000 nimmt Sofia Gubaidulina den Auftrag an, eine Johannespassion zu komponieren mit Solisten, großem Chor und einem Orchester mit vielen Klanginstrumenten. Sie verwendet dazu die Passionsgeschichte aus dem Johannesevangelium und  die Stelle aus der Apokalypse des Johannes: „Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und  auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger…“ (Apk 12,1 -6) Beide biblischen Texte verbindet sie so, dass alles Dramatische auf zwei Ebenen der Existenz geschieht, irdische Passion und himmlische Vision. Sie sagt in einem Fernsehinterview: „Beim Komponieren habe ich so vieles erlebt mit dieser Person Jesus Christus. Es ist meine persönliche Sache, es ist nicht für die orthodoxe Kirche, weil dort die Instrumente verboten sind. Religion ist unabdingbar im menschlichen Dasein.“

 

Hanna Strack, 2002