Hanna Strack » Die Frau, die Jesus die Füße salbt

Ein Fantasiebrief zu Lukas 7

Lukas 7, 36-50

 

Die Erzählung von der Frau, (fälschlich „Die große Sünderin“ genannt, denn sie ist die „Große Liebende“) die Jesu Füße mit Tränen benetzt, mit ihren Haaren trocknet, sie küsst und salbt, diese Erzählung habe ich zum Anlass genommen, einen Briefwechsel zu erfinden.

 

Ich habe der Frau den Namen Felicitas gegeben (in Luk 7,36 wird sie eine Stadt bekannte Sünderin genannt) und mir ihre Nichte Julia dazu ausgedacht. Ich stelle mir vor, was diese etwa im Jahr 70 n. Chr. an ihre Tante geschrieben hat. So kann ich ein Stück Frauenkirche rekonstruieren:

 

Liebe Tante Felicitas,
heute habe ich eine Bitte an Dich. Ich bin z. Zt. in Kappadozien im Landhaus des Arztes Lukas, wo eine Gruppe von Frauen und Männern sich vorgenommen hat, noch einmal ein Evangelium zu schreiben. Wir haben doch über das Markusevangelium hinaus noch viele persönliche Überlieferungen oder gar Erinnerungen an die Zeit mit Jesus. Natürlich wollen wir auch davon berichten, wie Du Jesu Füße gesalbt hast. Einige aus unserer Gruppe wollen schreiben, dass Du eine bekannte Sünderin warst. Sie wollen damit unseren Gemeindegliedern zeigen, wie Jesus ohne Bedingungen geliebt und Sünden vergeben hat. Doch wie war das genau? Ich habe in Erinnerung, dass Ihr – Du und Deine Freundinnen – erkannt hattet, dass Jesus der Sohn der Weisheit sei und ihr ihn deshalb zum Messias salben wolltet.

Und noch eine Frage: Markus berichtet von der Salbung des Kopfes und nicht der Füße. Ich vermute mal, dass Ihr Jesu Haupt und Füße gesalbt habt. 
Wir haben nun gerade davon geschrieben, dass Jesus die SünderInnen, die Armen und AußenseiterInnen ins Reich Gottes einlädt. Der letzte Satz heißt: Die Weisheit ist von allen ihren Kindern gerechtfertigt worden (Luk 7, 35). Daran anschließen soll sich dann als Beispiel, wie Jesus als Sohn der Weisheit auf Deine Fußsalbung reagiert hat! Ich bitte Dich, mir recht bald zu antworten und grüße Dich herzlich

 

Deine Julia

 

Und so könnte die Tante geantwortet haben:

 

Liebe Julia, ich freue mich sehr, dass Ihr bei Eurem großen Vorhaben nicht vergesst zu schreiben, wie wir Frauen Jesus gesalbt haben. Ich habe bei meinen Besuchen in vielen Gemeinden beobachtet, wie Männer uns Frauen unsichtbar machen wollen.

 

Deshalb erzähle ich Dir gerne, wie es war damals bei der unvergesslichen Begegnung mit Jesus, den wir Frauen aus Galiläa jahrelang begleitet haben. Wir fühlten uns von ihm als Gottes Töchter ernst genommen und wir erkannten, dass er der Prophet der Weisheit ist, jener göttlichen Gestalt und Mitschöpferin, die uns Frauen besonders nahe ist. Wir haben dann begonnen, Jesus zum Messias zu salben, jede von uns in unterschiedlichen Situationen. Ich habe in Bethanien die Chance ergriffen und seine Füße gesalbt. Denn nach einer alten Vorstellung liegt im Fuß des göttlichen Menschen seine Kraft und so konnte ich Jesus zeigen, welche Ehrfurcht wir ihm entgegenbrachten. Doch weil ich so unendlich traurig war über sein nahendes Sterben, habe ich den Tränen freien Lauf gelassen. Sie haben seine Füße benetzt, ich habe sie mit meinen Haaren getrocknet und dann habe ich einfach seine Füße geküsst, weil ich ihn verehrte und weil ich ihn liebte. Dann nahm ich das Olivenöl und massierte es langsam und feierlich in seine Haut ein und meine Finger spürten seine Haut. Es war eine ganz intime Nähe plötzlich da, die weit über das Salbungsritual hinausging! Deine Anfrage macht mir diese kostbare Minuten in meinem Leben wieder ganz lebendig. Dafür danke ich Dir.

Sicher könnt Ihr diese Erzählung von meiner Salbung als Beispiel anbringen dafür, dass die Weisheit-Sophia durch ihre Kinder gerechtfertigt wird. Aber ich meine, wenn Ihr mich als Sünderin bezeichnet, rutscht das zu sehr in die Ecke des Erotisch-Sexuellen. Wir Frauen waren einfach ein Teil der Armen und Beladenen, die Jesus in sein Gottesreich berufen hat! Sicher waren unter uns auch Huren dabei. Wie in allen Zeiten mussten sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen. Überhaupt sind unter den Armen und Entrechteten immer mehr Frauen als Männer.

Liebe Julia, wird Euer Lukas-Evangelium bald geschrieben sein? Können wir für unsere Hauskirche hier in Tiberias, deren Leiterin ich bin, eine Abschrift erhalten, damit wir sie in unseren Gottesdiensten hier vorlesen? Ich bin ja alt und weiß nicht mehr, wie lange ich noch lebe.

Bitte grüße Deine Mitschreibenden sehr herzlich von mir.

Maria von Magdala, Johanna Chusa und Susanna (Luk 8,1-3), mit denen ich letzten Sonntag einen großen Taufgottesdienst in Kapernaum hielt, rufen Euch auch ein SCHALOM zu!
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft der Heiligen Geistin sei mit Euch allen, Amen!

 

Deine Tante Felicitas.

 

Hanna Strack

 

Aus: FrauenKirchenKalender 2003