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Rahel, die Hirtin

 

Wir müssen uns Rahel als eine schöne Frau vorstellen, Hirtin der großen Herden ihres Vaters Laban – Schafe und Lämmer, Ziegen..

Wir sehen Rahel auf der Weide nördlich des Euphrat, im Zweistromland, wie sie gerade ihre Herde auf den Brunnen zutreibt, um die Tiere zu tränken.

Wir sehen Jakob dort stehen, der auf Wunsch seiner Mutter Rebekka eine Frau in ihrer Heimat sucht. Vom Jordan bis zum Euphrat war er gewandert.

Und nun steht Jakob vor Rahel und ihrer Herde, hilfsbereit rollt er den schweren Stein vom Brunnen – und dann küssen sich beide. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Dagegen müssen wir uns Rahels Schwester Lea als eine Frau „mit trüben Augen“ vorstellen. Nachdem Jakob sieben Jahre um Rahel gedient hatte, um sie heiraten zu können, schiebt Laban ihm in der Hochzeitsnacht die ältere Lea unter. Aber Jakob liebte Rahel so sehr, dass er nochmal sieben Jahre um sie dient.

Damit ist die Großfamilie „das Haus Jakob“ komplett: Lea und Rahel und deren Mägde Bilha und Silpa.

Aber mit der Nachkommenschaft gibt es Probleme. In einer patriarchalen Gesellschaftsordnung ist es der Sinn des Lebens einer Frau, Söhne zu gebären. Doch Rahel ist lange unfruchtbar. Sie gibt Jakob ihre Magd Bilha zur Leihmutter, diese gebiert ihnen zwei Söhne. Lea aber und deren Magd Silpa bekommen einen Sohn nach dem anderen. Rahel handelt mit ihrer Schwester: „Lea, gib mir die Liebesäpfel, die dein Sohn Ruben vom Feld mitgebracht hat, dann lasse ich Jakob heute Nacht zu dir gehen!“ Und dann endlich: Rahel gebiert den Josef.

 

Nun will Jakob zurück in seine Heimat – heimlich. Die Frauen stimmen dem zu. Rahel stiehlt ihrem Vater den Hausgott und versteckt ihn unter ihrer Satteldecke. Als Laban aufgebracht die Flüchtenden einholt, gibt sie vor, nicht aufstehen zu können, weil es ihr „nach der Frauen Weise“  ging. Laban bleibt nichts anderes übrig, er muss die Großfamilie Jakobs ziehen lassen.

Rahel erwartet ihr zweites Kind, als sie auf ihrer Wanderung schon im israelitischen Gebiet sind und von Bethel aus nach Süden sind. Am Straßenrand – südlich von Jerusalem in Richtung Bethel, kurz vor der Abzweigung nach Hebron – setzen die Wehen ein und sie gebiert den Sohn Benjamin. Die Hebamme sagt über Mutter und Kind: „Fürchte dich nicht, es ist ein Sohn!“, doch Rahel stirbt und wird an Ort und Stelle begraben.

 

Soweit das ergreifende Schicksal der schönen Hirtin Rahel, wie wir es im Rahmen der großen Familiensaga der Erzelterngeschichten lesen können.

 

Doch Fragen tauchen auf: Hatte der Name „Rahel“ noch eine andere Bedeutung, wenn Jahrhunderte später der Prophet Samuel den eben zum König gesalbten Saul zum Grab der Rahel schickt (1. Sam 10,2)? Wenn die Leute im Dorf Bethlehem als Zeugen für die rechtmäßige Eheschließung mit Ruth zu Boas sagen: Der Herr mache die Frau, die in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea, die beide das Haus Israel gebaut haben! (Ruth 4,11) ? Wenn Jesaja und mit ihm wieder Jahrhunderte später der Evangelist Matthäus (Mt 2,18) den Untergang Israels beklagen mit den Worten: „Horch, in Rama hört man Totenklage, bitteres Weinen, Rahel beweint ihre Kinder. Sie will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder, weil sie nicht mehr da sind.“

 

Fragen tauchen auf: der Name Rahel heißt „Mutterschaf“ so wie Lea „Kuh“ heißt. Sie werden als „Mütter in Israel“ bezeichnet, was sie den Richtern vergleichbar macht. (Richter 5,7)

 

Wir können uns deshalb Rahel auch als eine vorisraelitische Stammes-Göttin vorstellen entsprechend dem „Gott der Väter, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“. Die weibliche Gottesvorstellung und -verehrung wurde noch lange in Israel praktiziert. Die Schriftsteller der biblischen Bücher haben sie aber streng verurteilt. (www.gott-weiblich.de)

An manchen Stellen scheint also die vor-literarische Situation noch durch. Dann könnte es heißen: „Die Gottheit der Mütter, die Gottheit Saras, Rebekkas, Rahels und Leas“.

Und mehr noch: Rahel – die Erzmutter für die jüdische, christliche und moslemische Religion! Und das Bild einer schönen mütterlich-nährenden Gottheit.

 

Hanna Strack

aus: FrauenKirchenKalender 2002