Hanna Strack » Visionsbild „Die Seele und ihr Zelt“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Visionsbild „Die Seele und ihr Zelt“, linke Hälfte

Auf dem Hintergrund dieses Bildes sehen wir im oberen Teil ein dunkelblauer Himmel mit Sternen übersät, im unteren Teil die braune Erde. Im Vordergrund ist oben eine Raute mit einem goldenen Grundton mit unzähligen Augen darauf. In der Mitte zieht sich ein rotgoldener Streifen von der oberen Spitze nach unten. Das Gesicht eines Menschen ist darauf erkennbar.

Unten in einem Oval liegt am Boden eine Frau, die ihre Hände segnend erhoben hat.  In ihrem Mutterschoß liegt ein Kind. Der Lichtstrahl von oben fließt in das Herz und das Gehirn des Kindes und strömt von dort durch alle Glieder.

Über der Mutter stehen rechts und links Gruppen von Frauen und Männern. Sie tragen Schüsseln, in denen Käsekugeln sind. In die Schüssel links oben legt gerade eine unheimliche Gestalt etwas Dunkles hinein. In Anlehnung an Hiob 10,10 „Hast du mich nicht wie Käse lassen gerinnen?“ sind die verschiedenen Erbanlagen der Kinder als Käseballen dargestellt, die unterschiedliche Menschentypen versinnbildlichen: Aus fettem Käse erwuchsen tatkräftige, sehr begabte Menschen. Aus der dünnen Milch gerinnen dünne Käse, das sind schwache Menschen ohne Entschlusskraft, ohne Suchen nach Gott. Die mit Fäulnis vermischte Milch wird zu bitterem Käse. Das sind Menschen voller Bitterkeit und Schwermut. Ihnen hilft Gott, indem er sie in seine Schule nimmt und sie auf den Weg des Heils führt.

Hildegard gibt diesem Visionsbild einen theologischen Inhalt: Die Raute im oberen Teil des Bildes ist ein Sinnbild für die Gottheit, die sich bis an die Enden der Erde erstreckt. Diese Gottheit blickt mit ihren unzähligen Augen auf alle Menschen, die in der Verirrung leben oder die die Erlösung angenommen haben.

Der rotgoldene Streifen in der Mitte der Raute ist ein Sinnbild für Jesus Christus, den  Gott ihn in seinem ewigen Heilsplan vorgesehen hat. Der Lichtstrahl von oben ist der Heilige Geist. Er berührt die Seele des Kindes. So werden die Erkenntnis des Glaubens und die göttliche Liebe in das Herz jedes Kindes eingegossen. Die Seele ernährt so den Körper und der Geist Gottes schenkt dem Menschen Lebenskraft. Dies geschieht schon vor der Geburt, wir würden heute sagen, vorgeburtlich oder pränatal.

Hildegard vergleicht die Wirkung des Heiligen Geistes in der Seele mit einem Baum:

„Die Seele durchfließt den Leib wie der Saft den Baum. Der Saft bewirkt, dass der Baum grünt, blüht und Früchte trägt. Die Erkenntnis gleicht dem Grün der Zweige und Blätter, der Wille den Blüten, das Gemüt ist wie die zuerst hervorbrechende, die Vernunft wie die voll ausgereifte Frucht. Die Sinne endlich gleichen der Ausdehnung des Baumes in die Höhe und Breite.“

Der Mutterschoß ist gleichsam ein Ort für das Kommen und die Nähe Gottes, ein Sinnbild der Geborgenheit im Glauben.

 

Hanna Strack nach dem Text von Hildegard von Bingen in SCIVIAS I