Hanna Strack » Was haben uns unsere Vorfahren gelehrt?

 

 

Lk 1,41 Und als Elisabeth den Gruß Marias hörte, da hüpfte das Kleine in ihrem Bauch – die vorgeburtliche Entwicklung in Theologie, Philosophie und Pädagogik – was haben uns unsere Vorfahren gelehrt?

 

Einleitung

Abb. 1: Maria besucht Elisabet. Nikosia Pelendri, Foto privat

Sie sehen hier zwei Frauen mit ihrer transparenten Schwangerschaft, es ist das Bild zum Titel meines Vortrags: Maria, die mit Jesus schwanger ist, besucht Elisabeth, mit Johannes dem Täufer schwanger. Johannes hüpft – das sehen Sie deutlich und Jesus segnet. Der Satz wird hier zuerst berichtend, danach als Ereignis wiederholt: Elisabeth ruft: Siehe, als dein Gruß in mein Ohr hineinkam, da hüpfte das Kleine in meinem Bauch voller Jubel. Lk 1,44. Kindsbewegungen aus der Wirkung des heiligen Geistes, der RUACH, die schon pränatal im Kinde ist.

 

Und dazu Abb 1a+b Johann Sebastian Bach: das Hüpfen des Johannes

 

Ich werde Sie im ersten Teil meines Vortrags teilhaben lassen an Entdeckungen in der Bibel, vornehmlich im Alten Testament, der hebräischen Bibel. In einem zweiten Teil betrachten wir in einem kurzen Überblick die Einstellungen zur vorgeburtlichen Entwicklung in der Tradition der Kirche, in der Pädagogik und in der Subkultur des frauenrechtlichen Brauchtums, um am Schluss die beiden herausgearbeiteten Wege des Umgangs mit Pränatalität zu skizzieren.

Die Frage, die mich in meinem Vortrag leitet, heißt: Ist die Grundeinstellung zum Kontext von Schwangerschaft und Geburt geprägt vom Staunen über das Schöpfungsereignis oder von der Bemühung um Erziehung der Mutter? Von den großen Gefühlen der Glückseligkeit und der Trauer oder von der Sorge um Kontrollverlust? Sprechen die Texte von der Schöpfungskraft der Frau oder vom Erwartungsdruck gegenüber der optimalen Entwicklung des Kindes? Wer hat die Definitionsmacht? Sind Mutter und Kind Subjekte oder Objekte?

 

1   Pränatalität in der Bibel

Warum richten wir beim Thema Pränatalität den Blick in die Bibel?

  • Das Menschenbild im Alten Israel ging von der Leib-Seele-Geist-Einheit aus.
  • Die Bibel ist literarisch vielschichtig, Texte aus langer mündlicher Tradition wurden eingefügt.
  • Das Bewusstsein der Einheit der Person vor und nach der Geburt klingt immer wieder durch.
  • Das pränatale Kind kann Transzendenzerfahrungen haben.

Durch die frühe Übersetzung des Hebräischen Textes in das Griechische hat die Einheit von Leib-Seele-Geist auseinander gerissen: Bekannt ist das Wort näfäsch in der griechischen Übersetzung Psyche. Für Menschen im Alten Israel klingen alle Ebenen mit: Kehle, Seele, Leben, Ich, Geist Gottes. Auch das Wort rachamim, im Griechischen matrix oder hysteria, meinte mehr als gebärmütterlich oder Mutterschößigkeit, denn es klang immer mit auch: Schutz, Nahrung, Geborgenheit, Liebe. Gottes Barmherzigkeit ist das deutsche Wort für Gottes Mutterschößigkeit. JAHWE ist nicht übersetzbar oder kann bedeuten: Eine immer da Seiende Gottheit.

 

 

1.1 Texte, die auf eine lange mündliche Überlieferung zurückgehen:

Ein altes Segenswort wurde aufgenommen in die Reihe der Segenssprüche, mit denen der sterbende Jakob seine Söhne segnet. Dieser Text ist jetzt auf den Sohn Josef, dem Sohn eines Fruchtbaums an der Quelle, gemünzt:

Du bist gesegnet Von deines Vaters Gott, von wo dir Unterstützung, mit Schaddaj, von wo dir Segen zuteil wird, Segnungen des Himmels von oben, Segnungen der Urflut, die sich unten lagert, Segnungen von Brüsten und Schoß. 1. Mose 49, 25. Das Wort Schaddaj ist nicht geklärt, es kann heißen „die Gottheit, die nährt und zerstört“, denn es kann von schad, die Mutterbrust , und von schadad vernichten kommen. Eine ebenso weiblich konnotierte Gottheit verheißt Leben im gelobten Land, von einer männlich konnotierten Gottheit, wie sie in der Bibel überwiegend vorkommt, würden wir z.B. erwarten: Ich will euch eure Feinde untere eure Gewalt bringen:

… dann wird eure Speise und euer Wasser gesegnet werden.

Ich selbst werde Krankheiten von eurer Gemeinschaft fernhalten.

Bei euch soll es keine Fehlgeburten und keine Unfruchtbarkeit geben;

ich schenke euch erfüllte Lebenszeiten. 2. Mose 23, 25+26

Etwa zu dieser Zeit, 1400 v. Chr., wurde der Sonnengesang des Echnaton geschrieben, der Gott als Amme/Mutter zeigt, die das pränatale Kind tröstet. Echnaton besingt die Gebärmutter als Ort der Gegenwart des schaffenden und tröstenden Sonnengottes: Der du den Samen sich entwickeln lässt  in den Frauen, der du Wasser zu Menschen machst, der du den Sohn am Leben erhältst im Leib seiner Mutter und ihn beruhigst, sodass seine Tränen versiegen – du Amme im Mutterleib! – der du Atem spendest, um alle Geschöpfe am Leben zu erhalten. Kommt (das Kind) aus dem Mutterleib heraus, um zu atmen am Tag seiner Geburt, dann öffnest du seinen Mund vollkommen und sorgst für seine Bedürfnisse.

 

Die Rede von der eigenen Empfängnis, dem eigenen wunderbaren Geschaffensein, verwendet für Gott  das Bild einer Weberin im Psalm 139, 13-16:

Ja, du hast meine Nieren gebildet,

hast mich gewebt im Leib meiner Mutter.

Ich danke dir, dass ich auf erstaunliche Weise wunderbar geschaffen bin.

Wunder sind deine Taten, meine Lebenskraft weiß darum.

Meine Knochen waren nicht vor dir verborgen,

als ich im Verborgenen gemacht wurde,

als ich buntgewirkt wurde in den Tiefen der Erde.

Noch unfertig erblickten mich deine Augen.

Die betende Person bekennt hier, wie wertvoll sie ist, weil sie pränatal auf wunderbare Weise gewoben wurde. Und der Prophet Jesaja bekennt Gott hat mich berufen von Mutterleib an, gedachte meines Namens, als ich noch im Leib meiner Mutter war. Jes 49,1. Eine göttliche Stimme, die seinen Namen rief, ihn aus dem Stimmenchaos herausholte. So erinnert der Mensch Israels an das vorgeburtliche Leben – bewusst-unbewusst. Das mythische Bild vom Schoß der Mutter Erde weist auf eine lange mündliche Tradition hin. Mutterschoß und Erdenschoß vermitteln die Erfahrung, dass der Mensch am Anfang in der Gebärmuttererfahrung eine Ganzheit erlebt, ein Angeschlossensein an den Kosmos.

Bekannt ist die sogenannte Strafe für Evas Schuld nach der Austreibung aus dem Paradies. Es handelt sich eigentlich aber um eine Erzählung, die die Schmerzen erklären soll: Ich sorge dafür, dass deine Lasten groß und deine Schwangerschaften häufig sind. Nur unter Mühen (meist mit Schmerzen übersetzt) wirst du Kinder bekommen. Nicht zitiert werden dagegen diese nachfolgenden Sätze: Da gab der Mann-Mensch seiner Frau einen Namen: Chawwa, Eva, denn sie wurde zur Mutter aller, die leben. 1. Mose 3,20 Andere übersetzen: Die Mutter alles Lebendigen. Und zu Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt des Kain sagt Eva: Dann erkannte der Mensch als Mann die Eva, seine Frau; sie wurde schwanger, gebar den Kain und sprach: ‚Ich hab’s gekonnt, einen Mann erworben – mit Gott’. 1. Mose 4,1

 

1.2 Texte zur Einheit von prä- und postnatalem Bewusstsein:

Der fiktive König Salomo betont, dass er ein Mensch sei wie alle anderen: Im Leib meiner Mutter wurde ich zu Fleisch geformt, / während zehn Monaten in ihrem Blut fest zusammengefügt / aus dem Samen eines Mannes und nach lustvollem Beischlaf. Weisheit Salomos 7,1. Wir haben alle den lustvollen Beischlaf, die Sexualität als Ursprung! Das griechische Wort für Gebärmutter koilia ist dasselbe, von dem Jesus zu den Menschen im Tempel sagte, als sie darüber diskutierten, ob er der Messias sei: Alle, die an mich glauben, über die heißt es in der Schrift: ‚Flüsse lebendigen Wassers werden aus ihrem Inneren (koilia) fließen. Die Bedeutungen Bauch, Gebärmutter, Geborgenheit, Quelle des Lebens schwingen zusammen. Heute sagen wir: Bauchgefühl.

 

1.3 Texte zur Erfahrung des Erwähltseins im Mutterleib

Ich weise noch hin auf andere Texte, die die Verwurzelung des Menschen in seiner pränatalen Lebenszeit zeigen:

Achtmal ist in der Bibel die Rede von der prägenden pränatalen Erfahrung des Erwählt- und Gerufenseins. Ich wähle hier zwei Beispiele aus, nachdem ich schon die Berufung des Jesaja-Gottesknechtes zitierte: Der Prophet Jeremia bekennt: Schon bevor ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich erkannt, noch bevor du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. Jer 1,5. Der Theologe Paulus drückt sich auch so aus: Aber Gott hatte mich schon von Mutterleib an auserwählt; durch Gottes geschenkte Zuwendung wurde ich berufen. Gal 1,15. Das Bild vom Mutterleib ist natürlich nicht zufällig, es schwingt die Erinnerung an eine  Gotteserfahrung schon vor der Geburt mit. Zu einer ganzheitlichen Erfahrung gehört die Erinnerung an die pränatalen Erfahrungen,

 

 

1.4 Texte zur religiösen Bedeutung der Kindsbewegungen

 

Abb. 2 Rebekka holt das Orakel ein[i]

 

Die Erzelterngeschichten sind geprägt von Kinderwunsch und Schwangerschaften. Als Isaaks Frau Rebekka die aggressiven Kindsbewegungen ihrer Zwillinge Esau und Jakob spürte, bat sie um ein priesterliches Orakel. In 1. Mose 25 wird dies geschildert: Doch dann schlugen sich die Kinder in ihrem Leib und sie sagte: ‚Wenn das so ist, wozu bin ich dann da?’ Und so ging sie hin, Gott zu befragen. Und Gott sagte ihr: ‚Zwei Völker sind in deinem Leib, / zwei Nationen trennen sich bereits in deinem Schoß. / Eine Nation ist der anderen überlegen, / und der Ältere wird für den Jüngeren arbeiten.’ 1. Mos 25,22-23. Die Zwillinge sind Esau und Jakob. Auch diese Erzählung ist eine Ätiologie, die erklärt, warum es Nomaden- und Städtegesellschaften gibt. Das Beispiel der Kindsbewegungen Johannes des Täufers und Jesu habe ich eingangs vorgestellt. Solche Texte können nur geschrieben werden in einer Kultur, die die Pränatalität ernst nimmt.

 

1.5 Texte zur Fehlgeburt: konkrete Erfahrung und Symbol ungelebten Lebens.

Wir kennen den Ausdruck „Das beste wäre, nicht geboren zu sein“. Hiob hat dagegen dieses pränatale Bewusstsein, wenn er sich angesichts seines großen Leidens wünscht, gar nicht erst gezeugt worden oder schon als Fehlgeburt gestorben zu sein:

Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg,

warum kam ich nicht aus dem Mutterleib und verschied?

… Oder wie eine verscharrte Fehlgeburt existierte ich nicht,

wie Kinder, die das Licht gar nicht sahen. Hiob 10, 10-16

Wie wenn ich nicht gewesen wäre, wäre ich dann –

vom Mutterleib zum Grab gebracht …“ Hiob 10,19

Hier fällt das Wortspiel bätän – käbär, Mutterleib – Grab auf, Mutterschoß-Erdenschoß auf. Es erinnert an das Englische womb-tomb, es weist darauf hin, dass wir vom Mutterschoß zum Schoß der  Mutter Erde zurückkehren.

Kohelet oder Prediger ist ein Buch des Alten Testamentes, das über den Sinn des Lebens nachdenkt: Selbst wenn Menschen 100 Kinder hervorbrächten und viele, viele Tage und Jahre lebten, aber ihre hungrige Kehle von dem Guten nie satt würde, und selbst wenn sie kein Grab fänden – ich sage euch dennoch: Gut ist eine Fehlgeburt dran, sie hat es besser als diese Menschen. Pred 6,3

 

2. Pränatalität in der Tradition

 

2.1 Ein Blick in die theologisch-kirchliche Tradition

Es ist eine frauenkörperfeindliche, misogyne Theologie, die das menschliche Bewusstsein der 2000 Jahre Abendland prägt, und das, wie ich meine, bis heute. Dazu einige Beispiele: Der römische Kirchenvater Tertullian (ca 150-220) schrieb in seinem Buch De cultu feminarum (Vom Putz der Frauen): „Noch lebt die Strafsentenz Gottes über dein Geschlecht in dieser Welt fort; dann muss also auch deine Schuld noch fortleben. Du bist es, die dem Teufel Eingang verschafft hat.“ Laut Augustinus wird die Erbsünde durch den Zeugungsakt auf das Kind übertragen, es muss deshalb sofort nach der Geburt getauft werden, damit die Taufe es von der Erbsünde reinigt, sonst kommt es in die Vorhölle, den Limbus. Erst im Jahr 2007 gab Papst Benedikt XVI bekannt, diese Vorhölle sei nie eine kirchliche Lehraussage gewesen. Jahrhunderte lang haben Mütter deswegen gelitten.

In der frühen Neuzeit mussten lutherische Frauen beten, was Männer ihnen vorschrieben, also mit einem abgeleiteten Ich:

Zwar ich und meine Leibes-Frucht / Sind ungerathne Kinder / Doch nehm ich, Herr! zu dir die Flucht / Du wirst uns arme Sünder / Mit Jsop saubern/dass wir rein / Gewaschen als mit Laugen / Dir ausgesöhnet seyn / Und ja für deinen Augen / Noch etwas wenigs taugen. Ach Vater! ich und meine Frucht / Sind beyde von Natur verflucht. (Zitiert nach Strack 2006, S. 136). Dies ist auch ein Beispiel dafür, dass Frauen kein religiöses Selbst zugestanden wurde. Der Hexenhammer, ein pornographisches Buch mit sehr hohen Auflage vom 15. bis ins 19. Jahrhundert unterstellte, der Teufel habe durch Geschlechtsverkehr mit der Frau Zugang zur Menschenwelt. Dieses Buch zeigt, dass gerade dort, wo Schöpfungskraft im Unterleib der Frau entsteht, auch widergöttliche Kräfte wirken wollen.

Im Gegensatz zur Hebräischen Kultur, in der noch das Verständnis von Schwangerschaft und Geburt als Schöpfungsereignis erhalten ist, ist die kirchliche Tradition geprägt von Abwertung des Frauenkörpers und damit auch des pränatalen Kindes, von Kontrolle, Strafe und Demütigung der Frau. Dennoch gibt es einige Beispiele für eine Haltung der Schöpfungsfreude: Der syrische Kirchenvater Clemens von Alexandrien (ca 150-2015): „ ….aber die Geburt ist heilig, wegen welcher die Welt entstanden ist und ebenso die lebenden Wesen da sind, die Naturen, die Engel, die Mächte, die Seelen, die Gebote, das Gesetz, das Evangelium, die Erkenntnis Gottes.“ (Clemens 1936, 100-103). Die syrische Kirche im Osten hat im Gegensatz zur römischen Kirche eine positive Haltung zu Schwangerschaft und Geburt. Von dort fliehen viele Christen zu uns. Eine Touristin schilderte, wie in einer armenischen Kirche, die auch zur Ostkirche gehört, eine schwangere Frau und ein Priester zum Altar schritten, wo der Priester die Frau segnete.

Abb.3 Hildegard von Bingen, Die Seele und ihr Zelt, Vision aus SCIVIAS (Otto Müller Verlag Salszburg, linke Hälfte

Hildegard von Bingen (12. Jdt) unterstellte sich nicht dem Tabu Gott-Frau-Körper, das die Erbsündenlehre hervorbrachte. In den fünfzig ihrer später gemalten Visionen ist der Frauenkörper würdig, das Göttliche zu symbolisieren. Diese Vision hier „Die Seele und ihr Zelt“ zeigt im linken Teil, den wir hier sehen, das pränatale Kind. Oben sehen wir einen Rhombus mit vielen Augen, es ist ein geometrisches Bild für Gott und erinnert uns aber auch an die Plazenta. Unten liegt eine Frau kurz vor der Geburt ihres Kindes, eine transparente Schwangerschaft, Ein Band verbindet Gott und das pränatale Kind, es ist der Heilige Geist, der die Glieder des Kindes durchdringt, dies erinnert uns an die Nabelschnur, oben das Gesicht von Jesus Christus.. Die Personen rechts und links tragen in Schüsseln die Erbanlagen des Kindes. Gottes Geist erfülle, so Hildegard, das vorgeburtliche Kind, und ergieße sich in seine Glieder. Bei der Auferstehung seien auch die Fehlgeburten dabei. Gottes Geist unterstütze die Geburtsarbeit: „Steht die Geburt des Menschen nahe bevor, so dass die göttliche Macht den Verschluss der mütterlichen Gebärmutter öffnet, dann fühlt das Kind die Kraft Gottes … dann durchtränkt der Heilige Geist mit Seinem Tau die Grünkraft des Wissens.“ (Hildegard 1957, S. 69). Es ist der Moment, wenn das Kind beginnt zu atmen. Die Gebärmutter ist für Hildegard Symbol für die nährende, schützende und bergende Kraft des Glaubens, der Frauenkörper ist symbolwürdig für das Göttliche, wenn sie schreibt: „Der Glaube der Heiligen ist wie ein Mutterschoß – quoniam velut vulva fides sanctorum est.“

Ich erwähne noch die lutherische Kirchenordnung der Kirchenprovinz Preußen von 1558. Es handelt sich um eine Ausnahme unter den reformatorischen Kirchenordnungen. Darin werden die Hebammenbelehrt, die Nottaufe richtig zu vollziehen. Die preußischen Kirchenordnung enthält einen Hinweis auf das Schöpfungsereignis Geburt: Die Hebammen sollen achtsam ihres Amtes walten, denn sie bieten dabei ihrem lieben Gott die Hände, durch die er die Frucht, die er geschaffen hat, vom Mutterleib in dieses beschwerliche Leben führt. Deshalb ist diese Arbeit wahrhaftig ein heiliges, göttliches Werk, das zur Schöpfung unseres Gottes gehört, wie es im ersten Artikel unseres Glaubensbekenntnisses heißt. (Sehling, 1911, Bd.IV, S. 92).

Die frauenkörperfeindliche Theologie der Kontrolle und Demütigung der Schwangeren hat eine tiefgreifende Wirkungsgeschichte, nicht so die wenigen Texte einer wertschätzenden Theologie. Das zeigt sich heute in Schuldgefühlen, in der Ohnmacht gegenüber der Medizin, Technik, Werbung, Ratgeberliteratur und der Gesundheitspolitik.

 

2.2 Ein Blick in die Pädagogische Tradition

Angesichts der negativen Grundeinstellung zur Pränatalität überrascht es nicht, wenn in der pädagogischen Literatur der Tradition der letzten 500 Jahre wenige Bemerkungen zur Erziehung des Kindes im Mutterleib erscheinen. Hier geht es um die elterliche Verantwortung für die vorgeburtliche Entwicklung als Bestandteil der Erziehungslehre. Sehr deutlich spricht es die „Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher“ 1785 aus: „Der Leib der Mutter ist die erste Schule des Kindes … von dem Augenblicke der Empfängniß an noch ein großer Theil des künftigen Schicksals eurer Leibesfrucht von euch und eurem Betragen während der Schwangerschaft abhängt. Von allem, was die Mutter denkt und empfindet, begehrt oder verabscheut, leidet oder thut, für das Kind, welches sie unter dem Herzen trägt, nichts, durchaus nichts  ohne Wirkung bleibe, sondern, dass es durch dies alleskörperlich und geistig gebildet, und zu einem glüklichen oder unglüklichen künftigen Daseyn auf diese wirksamste Weise vorbereitet werde.“ (Zitiert nach Schepper, S. 37). Die vermeintlich abergläubischen Rituale der Frauen sollen durch Pädagogik zu ersetzet und der Mutterschoß zugunsten des Fortschritts des Menschengeschlechts benutz werdent. .

Die vorgeburtliche Entwicklung in der Pädagogik setzt die theologisch begründete Kontrolle der Frau fort. Das Expertenwissen des Mannes nutzt den Mutterleib zugunsten der Erziehung eines sich emanzipierenden Bürgertums.

Der einflussreiche Theologe Friedrich Schleiermachers (1768-1834) spricht in seinem großen pädagogischen Werk an einer Stelle vom pränatalen Kind. Er will jedoch die Frau nicht bevormunden, er wägt ab: „Als Anfang können wir nur die Geburt setzen. Was die Mutter vor der Geburt zu beobachten und zu tun habe, darüber können wir vom pädagogischen Standpunkt aus nichts bestimmen. Es ist freilich von großem Einfluss auf das Kind, wie die Mutter während der Schwangerschaft lebt; allein das unterliegt rein sittlichen Regeln, und näher medizinischen.“ (Schleiermacher, S. 187).

 

2.3 Frauenrechtliches Brauchtum

 

Die Texte, die wir hier betrachten, – das müssen wir uns klar machen – sind mit Ausnahme vielleicht der Gebetsbücher, lediglich Literatur. Der Lebensalltag der Schwangeren kann so nicht zur Sprache kommen. Dazu finden wir etwas in der Literatur zum frauenrechtlichem Brauchtum. Jacques Gélis „Die Geburt. Volksglaube. Rituale und Praktiken von 1500-1900“, hat dazu Berichte von Ärzten in Frankreich recherchiert. Er ist sich dessen bewusst, dass Schwangerschaft eigentlich Frauensache ist, aber Männer darüber sprechen und schreiben, die „ab dem 17. Jahrhundert mehr und mehr den Wunsch erkennen lassen, ihre persönliche Anschauung zur Regel zu erheben.“ Sein Resümee im Kapitel über die Schwangerschaft: „Die Natur hat die Frau als die Sachwalterin der Art angestellt – eine schwere Verantwortung, die weder Unvorsichtigkeit noch Irrtümer erlaubt. Die werdende Mutter muss ständig auf der Hut sein. Unaufhörlich ist sie in Sorge. Zudem wird sie ständig von einem Schuldgefühl gequält, das die jüdisch-christliche Glaubenstradition nur verstärkt hat und im 16. Und 17. Jahrhundert wohl seinen Höhepunkt erreichte.“ (Gélis, S. 82f).

Eine andere Quelle fand Eva Labouvie für ihr Buch „Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt“ in vorwiegend saarländischen und französischen Archiven, die die dörfliche Situation für Schwangere vom 16. bis 19. Jahrhundert erhellen, z. B. Prozessakten. Daraus geht hervor, dass die Not-Hilfs- und Festgemeinschaft der Frauen die Schwangere beobachteten, sie durch schadenabwehrende Rituale schützten. Nach der Geburt wird die Kindbettzeche gefeiert. Einen Einblick in die Situation von Schwangeren gibt Goethes Faust mit dem Schicksal von Gretchen. Es gab aber auch Privilegien und Unterstützungen, besondere Nahrungsmittel, Einschränkung der Steuerzahlung und Abgaben.

Labouvie resümiert: „Die Gemeinschaft der Dörflerinnen war dabei weiniger an einer moralischen Disziplinierung als an der Einhaltung einer kollektiven Vorstellung von der ‚guten Mutter’ gelegen … befördert durch Schutz- und Hilfsangebote sowie die Aufteilung von Verantwortlichkeiten … und die Einhaltung der dazugehörigen Spielregeln. Er machte es letztlich möglich, dass sich … Macht und Machtlosigkeit, Vergünstigungen und Einschränkungen, Hilfen und Demütigungen die Waage hielten“. (Labouvie, S. 102)

 

Schluss: Was haben uns unsere Vorfahren gelehrt?

 

Sie haben uns gelehrt, dass es zwei Wege gibt, die Pränatalität zu thematisieren: Den einen Weg der Begutachtung, Kontrolle, Disziplinierung und Abwertung der Schwangeren durch Theologen und Pädagogen, den anderen Weg des Staunens vor dem Wunder eines neuen Menschen, der schöpferischen Kraft der Mutter, einfach der Wahrnehmung der Phänomene. Indem ich den Gegensatz herausstelle, ist mir dadurch bewusst, dass eine Einseitigkeit des Weges dem Leben nicht gerecht wird. Den Gegensatz zuspitzen hilft aber zur Klarheit.

 

Für diesen zweiten Weg des Staunens wähle ich den Begriff  „Schöpfungswonne“ (Schubart 1941). Schöpfungswonne – dieses Wort hat mich, als ich es zum ersten Mal las, sofort ergriffen. Aber was ist damit gemeint? Es ist die „Liebesaffäre mit der Welt“, die wir bei Kleinkindern beobachten, die Freude am anderen, und diese Freude auch zeigen zu können, die umfassende Liebe für das, was ins Leben drängt, sich wandelt und vergeht. Es ist die Seins- und Gestaltungsfreude der Kunstschaffenden und derer, die den Alltag gestalten, es ist die Freude an Erotik und Sexualität. Diese Schöpfungswonne kennt unsere religiöse Symbolik kaum.

 

Jedoch das Bibelzitat im Titel meines Vortrags weist uns hin auf die Erzählung von den beiden Frauen Maria und Elisabet, aus deren Schoß das Neue hervorging.

ABB. 4 Lucy D’ Souza-Krone, indisch-christliche Künstlerin (Lucy-art.de)

 

Maria und Elisabeth erfreuen sich und tanzen, indem sie das Magnifikat singen. Zusammen bilden sie einen Schmetterling, mit dem Kind als Embryo in der Mitte, was bedeutet, dass beide schwanger sind. Das Kind liegt in der Form einer Kokosnuss (eine Kokosnuss wird an Heiligen Plätzen Indiens geöffnet und als Opfer dargebracht) und zeigt das Opfer von Jesus und Johannes an. … Maria und Elisabet sind in dem gelben orangenfarbenen Kreis. Das bedeutet, dass sie mit dem Kind SIND, und voll Gnade und Licht. Im Kind und des Kindes wegen hat diese wunderbare Begegnung stattgefunden, das Kind bringt ihnen Freude, Hoffnung, Licht und Leben.“[1]

 

Sie ließen es in ihrem Körper geschehen und gestalteten es zugleich aktiv durch ihre Schöpfungskraft, ihre Intuition und Inspiration. Die Pränatalität wurde in der Bibel ernst genommen sowohl als Zeit der Schöpfungsfreude als auch der Trauer über eine Stillgeburt, als numinosum fascinans et tremendum. Frauen ließen sich von ihren pränatalen Kindern etwas sagen und beanspruchten auch die religiöse Deutungsmacht.

ABB. 5 aus Braslien, gefunden im Internet und als Buchtitel

 

Dieses Bild aus Brasilien zeigt, dass alles, was Menschen gestalten seinen Ursprung hat im Mutterlieb, aller Menschen erste Heimat.

 

Einem aufmerksamen Beobachter fällt gelegentlich die Schöpfungsfreude in kleinen Begebenheiten auf: Wenn eine Frau erzählt, dass sie zum ersten Mal Großmutter wird und dabei die Freudentränen kaum unterdrücken kann. Warum auch? Es ist „ein freudiges Ereignis“. Oder Bemerkungen des Arztes Sven Hildebrandt: „Wir begreifen das Kind als fühlendes soziales Wesen, das Liebe und Zuwendung zu spüren vermag und andererseits Angst, Einsamkeit und Schmerz erleben kann.“ (Evertz et al., 141). In Frauengruppen und in Schwangerenkreisen werden die Phänomene ausgetauscht, die Erfahrungen und das Gespürte, Verletztheit und Stärke, auf gleicher Augenhöhe, ein Zeichen der Solidarität.

 

Ich schließe mit einem persönlichen Erlebnis: Anlässlich des Ev. Kirchentages hatte ich hier in Dresden eine Segnungsfeier für Schwangere angeboten. Einige Tage danach erhielt ich eine E-mail von einer der Frauen, die mir zeigte, wie ein Elternpaar sich den Grenzen der eigenen Macht im Rahmen der Schöpfungsfreude gestellt hat: Am Tag zuvor hätten sie erfahren, dass ihr Kind tot sei. Ihr Mann und sie haben beschlossen dennoch zu kommen und es habe ihnen gut getan.

 

Literatur

 

Evertz K, Janus L, Linder R (Hg) (2014). Lehrbuch der Pränatalen Psychologie, Heidelberg: Mattes.

Gélis, J. (1989). Die Geburt: Volksglaube, Rituale und Praktiken von 1500 – 1900. München: Diederichs.

Hildegard von Bingen (1987). Wisse die Wege – SCIVIAS, übertragen und bearbeitet von Maura Böckeler, Salzburg: Otto Müller.

Hildegard von Bingen (1957). Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen und der Heilung der Krankheiten, nach den Quellen übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, Salzburg: Otto Müller, 4. Aufl.

Hildegard von Bingen (1965). Der Mensch in der Verantwortung, Salzburg: Otto Müller.

Grohmann, M. (2007). Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen, Tübingen: Mohr-Siebeck.

Labouvie, E. (2000). Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln-Weimar-Wien: Böhlau.

Schepper, A. M. (2013). Das Soziale im Vorgeburtlichen. Interaktionstheoretische Analyse und

erziehungswissenschaftliche Reflexion. Würzburg: Ergon.

Schleiermacher, F. D. (2000). Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe 2 Bde, hrg. von Michael Winkler und Jens Brachmann. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Schubart, W. (1941). Religion und Eros. München: C. H. Beck.

Schües, Ch. (2008). Philosophie des Geborenseins, Freiburg-München: Alber.

Sehling, E. (1902-19013) Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Leipzig Bd. IV.

Strack, H. (2006). Die Frau ist Mitschöpferin. Eine Theologie der Geburt, Rüsselsheim: Christel Göttert.

Strack, H. & Nienkerk G. (2013). Guter Hoffnung sein. Ein spiritueller Schwangerschaftsbegleiter, Innsbruck: Tyrolia.

Strack, H. (2014). Spirituelle Reise zur Gebärmutter. Entdecken – Staunen – Würdigen, Münster: ATE.

 

 

 


[1] Unveröffentlichtes Manuskript, Übersetzung: Hanna Strack.


[i] Illustration aus dem Manuskript 224087 fol. 32v, Zweite Nürnberger Haggadah, gefunden in: Haag/Kirchberger/Sölle: Große Frauen der Bibel, Luzern, Freiburg 1993, S.66