Hanna Strack » Predigt zu Römer 11,33-36

feministisch predigen

Liebe Gemeinde!

 

An diesem sonntäglichen Sommermorgen haben Sie auf dem Weg zur Kirche sicher die Natur in all ihrer Pracht bewundert und Sie haben sich vielleicht gefragt: Wie ist wohl alles miteinander verbunden?

 

Die Blumen am Wegesrand, die Vögel in der Luft, die Menschen, denen wir begegnen und die vielen, die auf Erden leben, die Sterne am Nachthimmel, die Millionen Jahre alten Steine und alle die Tiere und alle Arten von Pflanzen, aber auch das Gute und das Böse, das Gesundsein und das Kranksein, das Geborenwerden und das Sterben – Gibt es in allem ein Eines, eine Wirkkraft, gibt es das, was die Welt im Innersten zusammenhält? Oder ist alles einfach nur eine Summe von Billionen Einzelteilen, die nebeneinander ohne Zusammenhang existieren?

 

Und wenn es einen Zusammenhang gibt, wie können wir das mit Gott in Verbindung bringen? Es gab einmal eine Antwort auf diese Fragen.

Die Visionärin Hildegard von Bingen, die im Mittelalter Äbtissin, Ärztin und Komponistin war, sie hat für dieses Eine ein Wort gewählt: sie nennt es die viriditas, das heißt die Grünkraft oder die grünende Lebenskraft. Diese viriditas – so schreibt sie – ist in allen Dingen, in den Steinen und im Menstruationsblut und in der Zeugungskraft des Mannes, viriditas bringt Blumen hervor und bewegt die Menschen, diese grünende Lebenskraft kommt aus der Weisheit und schenkt den Menschen Weisheit.

 

Eine andere Antwort auf diese Fragen gibt Paulus im Brief an die Gemeinde in Rom. Es ist ein Ausruf des Staunens und der Bewunderung, keine Erklärung. Paulus stimmt ein Loblied an auf die Weisheit, die Sophia Gottes, auf die Erkenntnis Gottes, auf die Entscheidungen und die Wege, die von Gott ausgehen. Und alles geschieht aus ihm, durch ihn und auf ihn hin.

 

Und so lautet unser Predigttext Röm 11,33-36 heute:

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

 

Und wieder fragen wir: Wie hängt alles miteinander zusammen? Wirkt Gott alles in allem? Es wird uns eine große Hilfe sein, wenn wir uns in einem Bild vorstellen, wie Gott alles in allem mit seiner Weisheit und seiner Erkenntnis durchdringt und alles von ihm und durch ihn und zu ihm ist.

Ich schlage vor, dass wir uns das Bild vom Teppich des Lebens vor Augen stellen. Im Teppich des Lebens ist alles miteinander verwoben und vernetzt. Die Natur mit ihren vielfältigen Formen, mit ihrem Werden und Vergehen. Im Teppich des Lebens gibt es viele Muster. Sie sind aus vielen verschiedenen Fäden gewoben. Wir selbst sind seit unserer Geburt darin ein neuer Faden, verflochten mit den anderen und doch eigenständig in seinem Leuchten, eingebunden in das Muster und doch eine eigene Linie. Bleiben wir beim Bild, dann können wir davon sprechen, dass Gott der Weber oder die Weberin ist, die den Lebensteppich webt.

Du hast uns schon im Mutterleib gewoben – du schneidest meinen Lebensfaden ab, so betet ein Psalmdichter. Wie groß ist die Weberin! Wie sieht sie im voraus das Muster, das sie weben will! Wie wählt sie die Richtung und geht ihren Vorstellungen nach!

 

Die lateinamerikanische Pfarrerin Julia Esquivel hat das Bild von Gott, der Großen Weberin, in einem Gedicht ausgeführt, das ich Ihnen jetzt zu Gehör bringen will:

 

Guatemaltekische Weberei

Wenn ich hinaufsteige

zum Haus der alten Weberin

betrachte ich voll Staunen

war ihrem Geist entspringt:

tausend verschiedene Muster nebeneinander,

und kein einziges Modell

kommt dem herrlich gewebten Tuch gleich,

mit dem sie die Gefährtin des Treuen und Wahren schmücken wird.

Die Menschen bitten mich immer darum,

ihnen den Markennamen zu nennen,

hnen genaue Modelle anzugeben.

Aber die Weberin lässt sich nicht in Raster pressen

und nicht in Schnittmuster.

Alle ihre Weberein sind Originale

und Wiederholungen gibt es nicht.

Ihr Einfallsreichtum ist über alle Planung erhaben.

Ihre geschickten Hände brauchen keine Vorlagen und Muster.

Es wird so, wie es wird, aber sie, die ist, wird es weben.

 

Die Farben ihrer Webfäden sind klar:

Blut,

Schweiß,

Ausdauer,

Tränen,

Kampf,

Hoffnung.

Farben, die keine Zeit verwaschen kann.

 

Die Kinder der Kinder unserer Kinder

werden die Hand der alten Weberin wieder erkennen.

Vielleicht bekommt sie dann einen Namen.

Aber als Muster wird sie niemals wiederholt werden.

 

Jeden Morgen

sehe ich ihre geschickten Finger die Fäden aussuchen,

einen nach dem anderen.

Ihr Webstuhl ist lautlos

und die Menschen beachten sie nicht

und trotzdem wird das Muster,

das Stunde um Stunde ihrem Geist entspringt,

mit vielen Farben, mit Figuren und Symbolen,

in ihren Fäden sichtbar,

dass niemand es je auswaschen und vernichten kann.

aus: Paradies und Babylon. Guatemaltekische Visionen und Gebet, hrg. und übersetzt von Marion Lahusen-Matthäus, Jugenddienst-Verlag, Wuppertal 1985 , S.71f.

 

Dieses Gedicht zeigt uns anschaulich, wie der Teppich des Lebens gewoben ist. Und wir können uns selbst mit unserem Schicksal darin wieder erkennen.

Das Gedicht zeigt uns auch in anschaulicher Weise, was Paulus mit theologischen und philosophischen Worten in unserem Predigttext ausruft: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

 

Paulus ist ergriffen von der Größe Gottes, von der Heiligkeit Gottes, dem er begegnet ist. Er staunt über die Tiefe des Reichtums alles dessen, was in Gott ist, über die Weisheit, mit der Gott alles ordnet und über die Erkenntnis, mit der Gott Antworten gibt auf alle unsere Fragen. Wie ist denn Paulus der Heiligkeit Gottes, dem Reichtum, der Weisheit und Erkenntnis begegnet?

Paulus schreibt diese Ausruf-Sätze, nachdem er darüber geschrieben hatte, wie Juden und Christen miteinander verbunden sind, wie Jesus aus den Wurzeln des jüdischen Glaubens seine Kraft zog und wie nun die Christen an diesem Baum ein neuer Zweig sind. Damit hat Paulus seine eigene Bekehrung vom Saulus zum Paulus, vom Verfolger zum Missionar des christlichen Glaubens, verstanden und damit auch die unergründbaren Werke Gottes erkannt.

Jesus Christus ist durch seine Geburt wie ein neuer Faden in das Gewebe, in den Lebensteppich hinein gewoben worden von Gott, der großen Weberin. Er ist nun ein leuchtender Faden, der sich durch die Muster zieht bis in die Gegenwart, ein Faden, der die Muster neu ordnet, der die anderen Fäden, die Menschen, mit seiner glutroten Farbe der Liebe zu einem neuen Leuchten bringt.

 

Auch dies ist ein Wunder, über das Paulus sein staunendes „O welche Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ ausrufen will. Auf dem Weg nachhause von diesem Gottesdienst werden Sie vielleicht über das neue Gottesbild nachdenken, Gott als die Große Weberin. Es ist ungewohnt und doch verständlich für alle, die einen handgewebten Teppich betrachten oder schon einmal am Webstuhl zugeschaut haben. Auf dem Weg nachhause werden Sie vielleicht wieder Staunen über die große Verbundenheit der ganzen Natur und mit Paulus in den Ruf einstimmen: „Welch eine Tiefe des Reichtums Gottes, denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge!“ Amen