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Philomena Franz – Frau Europas

 

„Lustig ist das Zigeunerleben…“. Wir alle kennen das Lied, haben es in unserer Jugend gesungen. Heute, geschult in „political correctness“, trauen wir uns kaum noch, das Wort auszusprechen. Aber Philomena Franz, eine deutsche Sinti, schreibt und erzählt „Zigeunermärchen“. Und ihr Buch „Zwischen Liebe und Haß“ (Herder Freiburg, 1985) trägt den Untertitel „Ein Zigeunerleben“.

 

Wie lustig war das im Deutschland des 20. Jahrhunderts? Glaubt man ihren begeisterten Kindheitserinnerungen, so trug es in den 20er Jahren durchaus noch romantische Züge. Philomena Köhler wird 1922 in Biberach geboren als jüngstes von acht Kindern einer reichen und prominenten Sintifamilie. Der Großvater Haag, ein echter Patriarch, war eine Art Hofmusiker beim württembergischen König gewesen. Sein Grab liegt in Tübingen unweit von dem Hölderlins. Als Musik- und Theatertruppe zog man in Luxuswohnwagen mit prächtigen Pferden durchs Land und hatte im Winter Engagements in den Städten, in der Liederhalle in Stuttgart, im Wintergarten in Berlin, im Lido in Paris. Schon die Siebenjährige tanzt Csárdás im ungarischen Kostüm und singt schwermütige Lieder dazu. Geborgen in Familie und Sippe, erzogen im Glauben und naturverbunden im Einklang mit den Jahreszeiten lebend, erwirbt sie sich ein Kraftpotential, das lebensrettend sein wird.

 

Die Machtergreifung Hitlers ändert alles. Die ganze Absurdität der Rassengesetze wird deutlich, als man Philomena als ‚“reinrassige Inderin“ einstuft, sie aber selbstverständlich nicht als Arierin anerkennt. 1938 muss sie die Mittelschule in Stuttgart verlassen und als Zwangsarbeiterin in einer Munitionsfabrik schuften. Immer mehr Mitglieder der weitverzweigten Großfamilie kommen in Lager; 1942 wird der Vater im KZ Mauthausen erschlagen.

 

Im März 1943 beginnt in Auschwitz Philomenas fast unglaubliche Horrorfahrt durch die Höllen des Naziregimes: Gefängniszellen, Arbeitslager, Steinbruch, Transporte in Güterzügen, wieder Munitionsfabrik, ständige körperliche und seelische Misshandlungen. In Ravensbrück wagt sie einen Fluchtversuch, wird aber von Volkssturmleuten eingefangen. Die grausame Strafe: Scheinerhängung und Stehbunker. In Oranienburg durchleidet sie 10 Tage Dunkelhaft. Zurück in Auschwitz-Birkenau trifft sie ihre zum Skelett abgemagerte Taufpatin wieder, die in ihren Armen stirbt. „Verzichte auf Rache“, ist die letzte Botschaft der alten Frau an die junge, die das damals schwer akzeptieren kann. Neben ihrer tiefen Marienfrömmigkeit ist die einzige Triebfeder, die sie am Leben hält, der Hass auf ihre Peiniger. Schon steht sie in der Schlange vor der Gaskammer, da wird sie noch einmal als „deutsche Zigeunerin“ herausgeholt. Der zweite Fluchtversuch, bei dem sie in Wittenberge den Drahtzaun durchschneidet, gelingt. Sie durchschwimmt die Elbe und findet Schutz in einem Gehöft, bis russische Offiziere auftauchen.

 

Die Eltern und fünf Geschwister haben den Holocaust nicht überlebt. Nach dem Krieg heiratet Philomena einen verwitweten Sinti und reist noch einmal zwei Jahre lang mit einer Musikgruppe umher. Die Band spielt für amerikanische und französische Besatzungstruppen, einmal auch vor Eisenhower in Ansbach und vor de Gaulle in Tübingen. Nach der Währungsreform siedelt sich die Familie in Köln an. Es folgen Jahre des Hungers und Elends. Philomena bekommt eine Tochter und vier Söhne. Es gibt Schwierigkeiten wegen fehlender Papiere, neue Diskriminierung, Kampf um Haftentschädigung, der sich bis 1975 hinzieht. Das erlebte Grauen führt sie in eine tiefe Depression. Während eines längeren Klinikaufenthalts schreibt sie ihre Erinnerungen nieder.

 

Damit beginnt Philomenas drittes Leben. In Vorträgen an Schulen und Universitäten berichtet sie seit einem Vierteljahrhundert unermüdlich von ihren Erfahrungen, nicht nur in Deutschland, auch in Belgien, Holland, Japan und Israel. Ihr Anliegen ist, „dass die Leiden der Zigeuner auch einen Platz in der deutschen Geschichte finden“. Im Gedenken an ihre sterbende Patin sagt sie heute: „Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich.“

 

Im Jahr 2001 erhält sie dafür den Preis „Frauen Europas“. Dieser wird seit 1991 vergeben an Frauen, deren ehrenamtliche Arbeit eine Vision von der künftigen Gestalt Europas erkennen lässt. Der undotierte Preis besteht aus einer Silberbrosche mit Lapislazuli und den in Gold geprägten 12 Sternen der Europafahne.

 

Christa Mathies